Ein Interview mit Gewerkschaftsführer Landini
Vorbemerkung:
Auch in Italien befinden sich die Gewerkschaften in Schwierigkeiten. Die drei großen Gewerkschaftsverbände, die dort vor 50 Jahren die Unternehmer das Fürchten lehrten, gibt es zwar immer noch (ein Erbe des kalten Krieges), aber sie leiden unter einem Mitgliederschwund, den sie vor der Öffentlichkeit, den anderen Organisationen und vielleicht auch vor sich selbst sorgfältig zu verbergen suchen. Immerhin verfügt Maurizio Landini, der 62-jährige Generalsekretär des größten Verbandes CGIL, noch über genügend Prestige, um gelegentlich einen Generalstreik auszurufen, der Wirkung und Aufmerksamkeit erzielen kann.
Wenn Landini in dem von uns übersetzten Interview die Wiederabschaffung des Jobs Act fordert, schlägt er einen Bogen zu den 70er Jahren, die heroische Phase der italienischen Arbeiterkämpfe. Er war 9 Jahre alt, als sie ein Ergebnis hatten, das damals als Meilenstein für die Demokratisierung der innerbetrieblichen Machtverhältnisse galt: das „Arbeitnehmer-Statut“ (Statuto dei Lavoratori), das im Mai 1970 vom italienischen Parlament verabschiedet wurde und „neue Normen für den Schutz der Freiheit und der Würde der Arbeitnehmer“ und ihre gewerkschaftliche Betätigung enthielt. Ein Kernstück war sein Art. 18, der in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten allen, denen eine arbeitsrechtlich „ungerechtfertigte“ Kündigung ausgesprochen worden war, die Wiedereinstellung garantierte.
Dieses Statut überlebte fast 45 Jahre, bis Matteo Renzi als Chef einer von ihm geführten PD-Regierung 2014 mit seinem Jobs Act wesentliche Teil von ihm außer Kraft setzte, „um wieder den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren“ (wogegen die Gewerkschaften, auch Landini, Sturm liefen). Das erste Opfer war der alte Artikel 18, den nun die Regelung ersetzte, dass Arbeitnehmern bei einer ‚ungerechtfertigten‘ Kündigung im Normalfall nur eine finanzielle Entschädigung zustand. Wenn Landini heute für die Wiedereinführung des alten Art.18 kämpft, ist dies auch eine Kampfansage an den damaligen neoliberalen Kurs von Renzi. Da dieser jedoch weiterhin Anhänger in der PD-Fraktion hat (die er selbst verließ), könnte eine Wiedereinführung des alten Art.18 auch in ihr auf Widerstand stoßen – die bei der gegenwärtigen Regierung sowieso auf taube Ohren stößt.
Ein ferner Abglanz der politischen Spannweite, welche die italienischen Arbeiterkämpfe vor über 50 Jahren verkörperten, zeigt sich auch noch in diesem Interview. Trotz seiner Haltung zur Frage weiterer Waffenlieferungen an die Ukraine – hier ist er Pazifist – ist er immer noch ein wichtiger Teil der Opposition.
Hier das (von uns übersetzte) Interview mit Landini, das die Repubblica am 3. 4. veröffentlichte:
„Der Jobs Act muss abgeschafft werden. Wir lehnen ein lebenslanges Prekariat ab.
Die falschen Gesetze müssen außer Kraft gesetzt werden, welche die Wurzel der armen und prekären Arbeit bilden. Das sagt Maurizio Landini, der Generalsekretär der CGIL, während er ein Referendum ankündigt, mit dem der Jobs Act abgeschafft und der alte Artikel 18 wieder eingeführt werden soll. „Geben wir den Bürgern ihre Stimme und ihre Würde zurück, legen wir die Entscheidung in ihre Hand. Italien ist schon ein Land mit maximalen Extraprofiten und minimalen Gehältern. Es ist Zeit, laut zu werden und basta zu sagen.“(Was Landini hier androht, ist das von der italienischen Verfassung in Art. 75 erlaubte „aufhebende“ Referendum, das einer Volksinitiative die Möglichkeit gibt, ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz wieder aufzuheben. Voraussetzung sind 500.000 Wahlberechtigte oder 5 Regionalregierungen, welche die Durchführung eines solchen Referendums fordern. HH).
Herr Sekretär, womit soll Schluss sein?
Schluss mit der Propaganda und den Versprechen eines ewigen Wahlkampfs. Die Hälfte der Italiener geht nicht mehr wählen, das Land altert, errichtet Mauern gegen die Migranten und lässt die Jugendlichen ins Ausland entschwinden. Statt die Steuerhinterziehung zu bekämpfen, macht die Regierung weiter mit sog. „Bereinigungen“, „Vergleichen“, „Amnestien“ (beschönigende Namen für Regierungsmaßnahmen, welche Steuerhinterziehung mit Straffreiheit belohnt; HH). Wir sagen Nein zur prekären Arbeit, aber Ja zu einer Arbeit in Würde, bei der man nicht umkommt, wenn man sie ausübt (es gab kürzlich wieder schwere Arbeitsunfälle mit vielen Toten, HH).
Ist der Kampf um Artikel 18 nicht ein Nachhutgefecht? Die Jugendlichen wissen nicht einmal, worum es hier geht.
Sie wissen es nicht, weil es für sie keinen Schutz mehr gibt und weil sie völlig prekär sind. Vor ein paar Tagen war ich in Piacenza, zur Betriebsversammlung der Amazon-Arbeiter. Der größte Teil von ihnen wurde nach dem 7. März 2015 eingestellt, ohne den Schutz, den die anderen haben. Hat es einen Sinn, dass es in Italien zwei solche Regimes gibt? Eines, das im Fall einer ungesetzlichen Entlassung die Wiedereinstellung, und ein anderes, das nur eine Entschädigung sichert?
Gibt es eine Neuauflage Landini gegen Renzi? Im Referendum steckt die Gefahr einer Spaltung auch der PD.
Wir schlagen ein anderes soziales Entwicklungsmodell vor, das auf den Rechten gründet, die heute den Lohnabhängigen vorenthalten werden. Im vergangenen Jahr waren von 7 Millionen Verträgen nur 16% stabil, aber 84% prekär. Das heißt befristet, unterbrochen, saisonal… In Italien erreichen 6 Millionen Personen kein Jahres-Einkommen von 11.000 Euro brutto. Und die Regierung hat bis heute keinen Euro aus Profiten und Extraprofiten kassiert.
Stattdessen verzeichnet die Regierung einen Beschäftigungsrekord und eine „stabile“ Armut.
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Die Armut nimmt zu. Und wenn die Beschäftigung zunimmt, bedeutet dies nur eins: Auch wer arbeitet, ist arm. Der Moment ist gekommen, um das zu ändern. Und eine ehrliche Bilanz aus 25 Jahren Politik der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts zu ziehen, die von allen Regierungen betrieben wurde, von Maronis Weißbuch (Maroni war Arbeitsminister unter Berlusconi, HH) bis zu Renzis Jobs Act.
Und was ist Ihre Lesart?
Noch mehr Prekarität und Ungleichheit, niedrigere Löhne, Einsparung im Gesundheitswesen und bei der Bildung, das Fehlen jeglicher Industriepolitik, weniger Arbeitsschutz. Die Regierung Meloni hat hier zu keiner Wende geführt, sondern stattdessen die zeitlichen Befristungen weiter liberalisiert und wieder Voucher (Arbeitsvergabe über Gutscheine, HH) eingeführt. Bezahlen müssen dafür vor allem Jugendliche, Frauen und der Süden. Deshalb greifen wir außer zu Kollektivverträgen zur Waffe des Referendums, zur Mobilisierung, zur Sammlung von Unterschriften für die von uns vorgeschlagenen Gesetze, die durch Volksinitiative zustande kommen und die Arbeit, das Gesundheitswesen, den Kampf gegen die Armut betreffen.
Eine dichte Agenda, knapp 4 Monate nach den letzten Streiks. Um was zu erreichen?
Mit der UIL haben wir uns dazu im Herbst gegenüber den Arbeitnehmern verpflichtet: Wenn es keine Antworten der Regierung gibt, würden wir weitermachen. Und Antworten hat es nicht gegeben. Stattdessen hat sich die Lage weiter verschlechtert. Bei der Arbeit gibt es weitere tödliche Unfälle. Und auch nach Florenz (Anspielung auf den schweren Baustellenunfall am 16. 2. mit 5 Toten, HH) gab es keine wirklichen Verhandlungen. Am 11. April streiken wir für die Gesundheit, den Arbeitsschutz und eine gerechte Steuerreform.
Die Regierung hat die Lizenz nach Punkten (für betriebliche Sicherheit, HH) eingeführt. Genügt sie euch nicht?
Sie hat nur einen Sinn, wenn sie alle Bereiche abdeckt und die Aktivitäten von Unternehmen stoppt, welche keine Sicherheitsvorschriften beachten. Aber so ist es nicht: Die fehlenden Punkte können mit einem einzigen Weiterbildungskurs wieder erworben werden. Wir fordern stattdessen ein Ende der Kaskade von Auftragsvergaben an Subunternehmen, bei öffentlichen und auch bei privaten Arbeiten. Die Verantwortung des Kommittenten für die ganze Kette. Die Wiedereinführung der ökonomischen und normativen Gleichheit für die Vergabe aller Aufträge. Nötig ist ein neues soziales Modell, das nicht mehr das von Florenz ist, mit Migranten, die in Schwarzarbeit und ohne Aufenthaltserlaubnis ausgebeutet werden, und die bei allgemeinem Stillschweigen bei der Arbeit umkommen.
Mit der CISL und der UIL habt ihr euch am Ersten Mai für das Europa-Thema entschieden. Eine Botschaft ein Monat vor der Europawahl?
Wir setzen uns in Monfalcone (Ort der diesjährigen zentralen Kundgebung zum 1. Mai, HH) für die Schaffung ein anderen sozialen Europas ein, das für die Arbeit und für den Frieden ist. Um Schluss mit der Austerität und mit dem neuen Stabilitätspakt zu sagen, wie es die europäische Gewerkschaft am 13. Dezember verkündet hat.Ich finde es sehr gefährlich, dass man nicht mehr in das Gesundheitswesen, die Schule, die industrielle Konversion investiert, dafür in neue Waffen.
Die Regierung bereitet ein neues Def vor. Was müsste es enthalten?
(Das Documento Econonomia Finanza beinhaltet die staatliche Wirtschaftsplanung für die nächsten 3 Jahre, das die Regierung jährlich dem Parlament bis zum 10. April vorlegen muss, HH).
Zusätzliche öffentliche und private Investitionen mit einer Vorstellung, wie es im Land weitergehen soll. Jetzt ist der Moment gekommen, um die Entwicklung zu unterstützen, mit dem Geld, wo es vorhanden ist: aus Extraprofiten und Renditen. Wenn die Regierung stattdessen nochmals an das Sozialbudget rührt – wie die Premierministerin im Januar durchblicken ließ -, sind wir bereit, die Mobilisierung zu verschärfen. Lohnabhängige und Rentner haben die Nase voll, der Bancomat der Regierung zu sein.
Werden Sie das auch dem neuen Präsidenten des Arbeitgeberverbandes sagen?
Ich werde ihm sagen, dass die nicht prekäre Arbeit und das Know-how wieder ins Zentrum gerückt werden müssen. Und dafür alle nationalen Tarifverträge zu erneuern sind. Die Logik der Vergabe von Aufträgen an Subunternehmen muss überwunden werden. Hier erwarte ich klare Entscheidungen. Auch weil unser Fertigungssystem in Frage gestellt zu werden droht. Wir müssen nur hinschauen, was bei Stellantis, der Zerschlagung der Telecom, beim fast völligen Verschwinden der Stahlproduktion geschieht. Hier muss jetzt wirklich investiert werden.“ (Stellantis ist die neue Super-Holding, zu der sich 2021 Fiat-Chrysler, Peugeot und Opel-GM zusammenschlossen. Fiat klagt seitdem über die Unterauslastung der italienischen Fiat-Werke, HH).
Warum hat die Fiom (zuständige Branchengewerkschaft der CGIL, HH) den Abfindungsplan für ausscheidende Stellantis-Mitarbeiter nicht unterschrieben?
Die Kapazität der italienischen Auto-Produktion ist nur noch zu einem Drittel ausgelastet. Das ist schon ein klares Zeichen für nachlassendes Engagement. Die Fiom hat nicht unterschrieben, weil dieser Plan de fakto ein Schritt zur Beendigung der Aktivitäten oder zur Schließung der Werke ist. Seit Jahren fordern wir, dass die Regierung die Eigentümer zusammenruft, um mit uns über die Investititionen und die Auswirkung auf die Zulieferer zu verhandeln. Auch deshalb werden am 12. April alle Richtungsgewerkschaften in Mirafiori (dem größten Fiat-Werk in Turin, HH) in den Streik treten. Die Mobilisierung für eine neue Industriepolitik steht noch ganz am Anfang.
Was steht sonst noch auf dem Programm?
Am 20. April die Demonstration in Rom wegen des nicht funktionierenden Gesundheitswesens: 9 Millionen Italiener verschulden sich jährlich um eine Milliarde, um wieder gesund zu werden.
Da können wir nicht passiv bleiben: Das ist keine öffentliche Dienstleistung mehr. Dann am 25. April in Mailand gegen den Krieg, für Freiheit und Demokratie, und um den Sieg über den Nazifaschismus zu feiern. Und schließlich am 25. Mai inNeapel mit allen Assoziationen für die Einhaltung der Verfassung und die Einheit des Landes gegen die ‚Autonomia differenziata‘. Wenn die Regierung diese Absicht weiter verfolgt, ziehen wir auch ein aufhebendes Referendum in Erwägung.“