Rauswurf eines Faschismus-Forschers
Die Rechtsregierung verfolgt das ehrgeizige Ziel, das öffentliche Fernsehen unter ihre Kontrolle zu bringen, und ist dabei schon ein Stück vorangekommen: Nachdem zunächst unabhängige Köpfe wie Roberto Saviano und die aufmüpfigsten Talkmaster ihre Jobs bei der RAI verloren hatten (oder sich „freiwillig“ verabschiedeten), wurde fast die gesamte Führungsebene mit den Vertrauensleuten der Rechten durchsetzt. Die Gewerkschaft „Usigrai“, die das Pech hat, von der Rechten als Hochburg der Linken in der Belegschaft angesehen zu werden, wurde zwar nicht aufgelöst, aber es wurde gegen sie eine gelbe Gewerkschaft gegründet, die „Unirai“, die gleich mit dem zusätzlichen Anreiz ausgestattet wurde, dass der Übertritt in sie in dem allgemeinen Revirement, das in der Belegschaft stattfindet, mit Beförderungen belohnt wurde. Wie man hört, sollen inzwischen schon etwa 70% der Posten, die für politische Themen zuständig sind, mit Gewährleuten der Rechten besetzt sein.
Vor ein paar Wochen versuchte die Rechtsregierung, mit Blick auf die Europawahl noch einen Schritt weiterzugehen. Von nun an sollte für das öffentliche Fernsehen nicht mehr – wie bisher – die sog. „Par condicio“ gelten, die im Wahlkampf allen Parteien das gleiche Recht zur Selbstdarstellung einräumt. Äußerungen der Regierung zu den anstehenden Themen sollten ab sofort aus diesem Gleichheitsgebot herausgerechnet werden, was für die Rechte bedeutet hätte, in diesem Wahlkampf fast über ein Informationsmonopol zu verfügen. Der Versuch war jedoch übereilt, er scheiterte vorerst noch am Einspruch einiger Befürworter eines pluralistischen Fernsehens (auch in der Belegschaft), aber er zeigte bereits die Richtung, auf welche die Rechte hinarbeitet.
Seit ein paar Tagen gibt es ein weiteres Ereignis, das signalisiert, wohin die Reise geht, das aber gleichzeitig zeigt, welche Widerstände noch dabei zu überwinden sind. Es erregte so viel Aufsehen, dass sich seine Initiatoren inzwischen sogar fragen mögen, ob sie nicht auch hier zu früh gehandelt haben. Der Anlass ist ein schlichtes Datum: der 25. April, der offizielle Tag der Befreiung Italiens vom Nazifaschismus, der – wie gerade eine Umfrage ergab – für etwa 70% der Bevölkerung immer noch ein Feiertag ist, für die Nostalgiker des Duce aber ein Trauertag,.
Der Fall Scurati
Antonio Scurati ist 55 Jahre alt und Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Mailand. Ein Intellektueller, den bisher vor allem ein schriftstellerisches Großprojekt bekannt machte: drei Bände über Aufstieg und Ende des Faschismus in Europa (ein vierter soll folgen), die inzwischen auch in deutscher Sprache vorliegen und ihm u. a. schon wichtige Literaturpreise wie z. B. den (italienischen) Premio Strega und den Preis des europäischen Buchs eingebracht haben.
Aber die Zeit, in der er in Ruhe dem Schreiben seiner Bücher nachgehen konnte, scheint vorerst vorbei zu sein. Nicht weil er, sondern weil sich Italien verändert hat: Seine Arbeit ist plötzlich subversiv geworden. Der erste Vorbote des Wandels kam schon im Herbst 2022, als Giorgia Melonis Fratelli d’Italia an die Macht gekommen waren. Die rechte Zeitung „Libero“ widmete ihm einen Artikel unter der Balkenüberschrift „L’uomo di M.“, was für Nicht-Italiener vielleicht harmlos klingt, weil es sich auf seine Bücher über Mussolini beziehen könnte, die er selber seine „M.-Bücher“ nennt. Was aber jeder, der die italienische Alltagssprache kennt, spontan mit einer anderen Bedeutung assoziiert: Scurati ist der „Uomo di Merda“, der „Mann aus Scheiße“, der nicht ertragen kann, dass nun das Volk – das Volk! – eine rechte Regierung gewählt hat.
Was sich im Herbst 2022 noch darauf beschränkte, ihn öffentlich mit Dreck zu bewerfen, wurde nun zum Versuch, ihn zum Schweigen zu bringen. Auslöser waren eine RAI-Journalistin namens Serena Bertone, die in RAI 3 die Sendung „Che sarà“ moderierte und – wer weiß weshalb – noch nicht aussortiert wurde, und der vermaledeite 25. April. Zur Einstimmung auf diesen Tag hatte Bertone geplant, in ihrer Sendung auch den berühmten Spezialisten Antonio Scurati mit einem von ihm selbst vorgetragenen Statement zu Wort kommen zu lassen. Die neue Führung der RAI bekam Wind von dem Inhalt und verfügte kurz vor der Sendung, dass Scuratis Auftritt aus der Sendung zu streichen sei – ob aus vorauseilendem Gehorsam oder auf Anweisung von „ganz oben“, bleibt im Dunkeln.
Der inkriminierte Beitrag…
Den Text, den Scurati vortragen sollte, wurde inzwischen von vielen italienischen und internationalen (auch deutschen) Zeitungen veröffentlicht. Seine Kernaussage: Der Versuch der Postfaschisten, die italienische Geschichte umzuschreiben, gründe auf zwei Unwahrheiten: Erstens dass der Faschismus eigentlich gut gewesen sei und nur in den späten Dreißigern den „Fehler“ begangen habe, sich von den Nazis die Rassengesetze aufschwatzen zu lassen, und dass zweitens die mörderischen Repressalien, zu denen die deutsche Soldateska gegen die italienische Bevölkerung griff, ohne Beteiligung der italienischen Faschisten zustande kamen. Wogegen Scurati darauf hinweist, dass Mussolini schon 1924 ein Mitwisser der bestialischen Ermordung des Sozialistenführers Giacomo Matteotti war, und dass sich die Faschisten auch zwei Jahrzehnte später an den Massakern der deutschen SS gegen die italienische Zivilbevölkerung beteiligten. Und daraus folgert, „dass der Faschismus während seiner ganzen Geschichte … ein Phänomen von systematischer, politischer und mörderischer Gewalt und Terrorismus war.“
Bis zu diesem Punkt bringt Scuratis Statement eigentlich nichts Neues, sondern gibt den Stand der Forschung wieder, auch wenn er für die neue Macht unbequeme Wahrheiten enthält. Am Ende wagte er noch eine Kritik an Giorgia Meloni, auch wenn sie halbwegs milde ausfällt und fast wie ein Friedensangebot klingt: „So lange sie es ablehnt, das Wort Antifaschismus in den Mund zu nehmen, … wird das Gespenst des Faschismus weiterhin die italienische Demokratie heimsuchen“.
… und Melonis Reaktion
War es das, was die Wächter des neuen Kurses im Fernsehen auf die Barrikaden rief und sie zu einem Vorgehen veranlasste, das auch der Wohlmeinendste nur noch als Zensur wahrnehmen konnte? Nicht Scuratis Text war es, sondern ihre Reaktion, die erst dem von ihm beschworenen „Gespenst des Faschismus“ seine Konkretion gab: Zunächst das Auftrittsverbot für Scurati, den Experten, in einer Sendung über den Tag der Befreiung vom Nazifaschismus. Ohne jede inhaltliche Begründung, aber verbunden mit einer persönlichen Desavouierung, an der sich nun auch Meloni beteiligte, als sie merkte, dass das Auftrittsverbot für Scurati zum Skandal zu werden drohte: Sie postete, dass das Geschehene mit „Zensur“ nicht das Geringste zu tun habe (wo sie doch bisher immer selbst ein Opfer der Zensur des Fernsehens gewesen sei), sondern nur eine Folge von Scuratis Versuch, „sich seine Propaganda gegen die Regierung vom Geld der Bürger bezahlen zu lassen“, indem er für „eine Minute Monolog 1800 Euro“ kassieren wollte, „mehr als viele Lohnabhängige in einem Monat verdienen“ – was ihm die RAI nur verweigert habe. Eine nachträgliche Konstruktion, aber auch ein durchsichtiger Versuch, vom Thema abzulenken, mit der Perfidie, sich einmal mehr mit den „normalen Bürgern“ zu verbrüdern, indem es die Affäre zu einem Problem der Habgier des Regimefeindes zu machen versucht.
Schuss nach hinten
Selten ging ein Schuss so nach hinten los. Es begann mit Serena Bertone, der Moderatorin, die in ihrer Sendung, in der Scurati eigentlich auftreten sollte, in einer Aufwallung von Bürgertrotz an seiner Stelle den inkriminierten Text vortrug. Dann folgten die nationalen und internationalen Zeitungen, die bis zur New York Times den gleichen Text brachten und dabei das Kind beim Namen nannten: Zensur. Wobei es zur Ironie der Geschichte gehört, dass sich schließlich auch Meloni selbst entschloss, ihrem Post den (längst bekannten) Text anzuhängen, „damit die Italiener den Inhalt frei beurteilen können“ – die Souveränistin wollte in dieser Affäre noch einen Rest von Souveränität demonstrieren.
Der angerichtete politische Schaden ist trotzdem immens, denn die vielen Journalisten, die sich in den letzten Monaten – auch in Deutschland – zu dem Urteil durchgerungen hatten, dass Meloni und ihr Regime vielleicht doch nur „halb so schlimm“ seien, entdecken nun, einer Selbsttäuschung erlegen zu sein.
Scuratis Erklärung
Wieder war es Scurati, der einen Tag nach dem 25. April in einem Interview genauer erläutert, warum er der Weigerung der Postfaschisten, das Wort „Antifaschismus“ in den Mund zu nehmen, Bedeutung beimisst: Nicht weil er die Rückkehr des historischen Faschismus Mussolinischer Prägung fürchtet, sondern weil der Schlachtenlärm um die Begriffe Faschismus/Antfaschismus den Prozess verdeckt, der Italien – und nicht nur Italien! – vor allem gefährdet: die Transformation zu einer „autoritären oder illiberalen Demokratie wie Ungarn“, das wahre Zukunftsmodell der Postfaschisten. „Mehr als die explizite Rehabilitierung des Faschismus streben die Postfaschisten die Liquidierung des Antifaschismus als Grundlage der Verfassung und der Republik an“. Diese Illiberalisierung, für die Italien „einmal mehr die Vorhut oder das Laboratorium“ sei, habe „schon begonnen“.
Das Anwachsen dieser Gefahr für ganz Westeuropa erklärt er mit der langen Friedenszeit, die in Europa herrschte und eine gewisse „Apathie“ erzeugte, zum Beispiel gegenüber dem Geschehen in der Ukraine. Und in Italien mit einer Geschichtsvergessenheit, die auch spezifische Gründe habe: „die Tatsache, dass die Mythisierung der heiligen Resistenza eine essentielle Wahrheit im Dunkeln ließ, die eigentlich das kollektive Bewusstsein zur Kenntnis nehmen. verarbeiten und bewältigen müsste: die Wahrheit, dass wir Faschisten waren, dass dieser Faschismus eine der letzten Erfindungen des Genus italico war und dass demzufolge die einzigeMöglichkeit zur Überwindung dieser Identität nur darin bestand, für sie die Verantwortung und die Schuld anzuerkennen. Das ist nicht geschehen, im Unterschied etwa zu Deutschland. Ihr Wahlsieg war die letzte historische Gelegenheit dazu, dass diese Katharsis stattfinden konnte, aber sie wurde systematisch verhindert“.
Eine Erklärung, die wohl für Italien zutrifft. Inwieweit sie auch für Deutschland gilt, ist eine andere Frage. Auch die Katharsis, wenn es sie denn in Deutschland gab, hat ein Verfallsdatum, dessen Zeuge wir gerade werden könnten.
Mein Vater starb am 26. April 1945 im Krankenhaus von Pavia und wurde auf dem dortigen Friedhof bestattet (was wir erst zwei Jahre später durch den Suchdinst des Roten Kreuz erfuhren). Er befand sich wahrscheinlich in einem der drei Züge mit deutschen Soldaten, die am 25. April auf dem Weg von Genua nach Mailand in Pavia von italienischen Partisanen gestoppt und entwaffnet wurden. Für mich persönlich ist der 25. April also ein Trauertag, dennoch feiern Italiens Antifaschisten diesen Tag zu Recht als Tag der Befreiung. Dass dies heute von den regierenden italienischen Postfaschisten bestritten wird, ist für mich alles andere als ein Trost. Ich bin aber sicher, dass der derzeitige gespenstische Aufschwung faschistischer und autoritär-antilliberaler Bewegungen in Europa ein Spuk ist, den der entschlossene Widerstand endlich wach gewordener Demokraten wegfegen wird.