Ligurien im Korruptionssumpf
Der Präsident der Region Ligurien, Giovanni Toti, wurde am 7. Mai unter Hausarrest gestellt. Die Staatsanwaltschaften von Genua und La Spezia und die Antimafiabehörde ermitteln gegen ihn wegen Korruption im Amt. Verhaftet wurden auch Totis Stabschef Matteo Cozzani, der ehemalige Leiter der Hafenbehörde Signorini, der Hafenunternehmer Aldo Spinelli sowie weitere Unternehmer, u. a. Francesco Moncada vom Verwaltungsrat der Supermarktkette „Esselunga“.
Die Festgenommenen werden verdächtigt, ein Korruptionssystem aufgebaut zu haben, in dem der Regionspräsident, sein Vertrauter Cozzani und weitere regionale und kommunale Amtsträger von lokalen Unternehmern Geldzahlungen erhalten haben, um ihnen in Gegenzug Begünstigungen bei ihren Geschäften zu verschaffen. Auch die organisierte Kriminalität – in diesem Fall die in Ligurien tätige Cosa Nostra – hat ihre Finger im Spiel. Wie meist in Italien, wenn es um Korruptionsfälle geht, in denen Politik und Wirtschaft verstrickt sind. Nach Erkenntnissen der Ermittler wurden die Korruptionsgelder zur Finanzierung von Wahlkämpfen und anderen parteipolitischen Aktivitäten und zum Stimmenkauf („voto di scambio“) genutzt. Die begünstigten Unternehmer zeigten sich gegenüber den Politikern auch mit teuren Geschenken erkenntlich (für sie selbst, ihre Ehefrauen und Geliebten), der Übernahme von Hotelkosten, Einladungen zu Yachttouren und ähnlichen Annehmlichkeiten.
Vom Delphin Berlusconis zum Regionalfürsten
Giovanni Toti, der einst ein Journalist bei Berlusconis Privatsender Mediaset war, wechselte 2014 in die Politik, zunächst als „politischer Berater“ Berlusconis, dann als Abgeordneter im EU- Parlament, bis er 2015 zum Präsidenten der Region Ligurien gewählt wurde. 2019 verließ er Forza Italia, um eigene Parteien zu gründen („Cambiamo“ und „Coraggio Italia“), um sich dann 2022 der kleinen konservativen Gruppierung „Noi moderati“ anzuschließen.
Im Laufe von zwei Mandaten als Regionspräsident hat der einstige „Einflüsterer“ Berlusconis ein weites Netz von Beziehungen zu in Ligurien tätigen Unternehmern und Geschäftsleuten aufgebaut und sich dabei einen Namen als „Problemlöser“ gemacht: „unorthodoxe“ Beschleunigungen von Projektbewilligungen, Einflussnahme auf Auftragsvergaben und Ausschreibungen – sofern die Unternehmer bereit waren, zu zahlen. Zu den Hauptverdächtigen gehören neben Toti auch sein Stabschef Cozzani, der Hafenunternehmer Aldo Spinelli sowie der ehemalige Leiter der Hafenbehörde Signorini. Dazu kommen weitere Unternehmer, mehrere Regions- und Kommunalräte und Personen aus der Verwaltung und anderen Behörden.
Regionspräsident Toti machte bei dem ersten Verhör von seinem Recht Gebrauch, nicht auszusagen. Sein Rechtsanwalt begründete das damit, sein Mandant und er wollten sich zuerst eine Übersicht über die Anklagepunkte verschaffen. Inzwischen hat sich Toti bereit erklärt, vor den Ermittlungsrichtern auszusagen, einen Termin dafür hat die Staatsanwaltschaft noch nicht festgelegt.
Spinelli, der Hafenkönig
Wer bereits ausgiebig geplaudert hat, ist Aldo Spinelli, der umtriebige und mächtige Herrscher über Genuas Hafen (der in Italien ungefähr die gleicht wirtschaftliche Bedeutung hat wie der Hamburger Hafen in Deutschland).
Der muntere 84-Jährige erklärte auf Fragen der Reporter gutgelaunt, er habe den Ermittlern „alles, aber wirklich alles gesagt“ und erwarte nun für seine „Kooperationsbereitschaft“ die baldige Freilassung. Dabei ist der Inhalt seiner Aussagen nicht gerade entlastend. Er sei eigentlich gegenüber allen Politikern und unabhängig von ihrer politischen Couleur bereit gewesen, Geld zu zahlen, räumte Spinelli mit entwaffnender Offenheit ein. Gerade in Wahlkampfzeiten hätten nämlich alle bei ihm angeklopft, wobei Toti besonders penetrant „Druck gemacht“ habe. Es ging dabei u. a. um den Bau eines „Maxi-Staudamms“ im genuesischen Hafen (eines der „strategischen Großprojekte“ des von der EU geförderten Nationalen Recoveryplans/PNRR) und um die Vergabe einer 30jährigen Konzession für das Betreiben des großen Hafenterminals „Rinfuse“ sowie um die Privatisierung von Stränden zwischen Celle Ligure und Varazze, wo Spinelli bereits Besitzer einer Reihe von Luxusimmobilien ist.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Spinelli seine Bereitschaft einräumt, sein Portemonnaie für Toti und andere Politiker zu öffnen, ist erstaunlich. Keine Spur von Unrechtsbewusstsein. Er versuchte, auch andere am Hafen beteiligten Unternehmer zu Schmiergeldern für Toti zu bewegen. Und als die Managerin Ivana Semeraro von der Investmentgruppe Icon Infrastruktur am Telephon seine „Bitte“ mit der Begründung ablehnt, das sei doch Korruption, ist Spinelli (der abgehört wurde) ganz erstaunt: „Wieso das denn? Wir machen das doch immer, schon seit Jahren!“
Das Erbe von „Tangentopoli“
Die ligurische Korruptionsaffäre weckt unweigerlich Erinnerungen an den sogenannte „Tangentopoli“-Skandal vor 30 Jahren: Ein riesiges System von Korruption, Amtsmissbrauch und illegaler Parteifinanzierung, das Anfang der 90er Jahre von den Mailänder Staatsanwälten mit der Operation „Mani pulite“ („Saubere Hände“) aufgedeckt wurde und nach Mailand beinahe die ganze Republik erfasste. Das Erdbeben von Verurteilungen, Verhaftungen und politischen Rücktritten, das folgte, führte zum Zusammenbruch der Parteienlandschaft und zum Ende der so genannten „Ersten Republik“. Was danach kam, war allerdings keine „moralische Wiedergeburt“, im Gegenteil: 1994 trat ausgerechnet der Bauunternehmer und Medienmagnat Berlusconi in die Politik ein, der die korrupte Verflechtung von politischen und wirtschaftlichen Interessen in seiner Person vereinigte und diese bis in höchste staatliche Institutionen etablierte.
Zum späten Erbe der „Tangentopoli“ gehört auch ein Gesetz zur Abschaffung öffentlicher Parteifinanzierungen, das 2013 die Regierung Letta (PD) verabschieden ließ. Vorgesehen waren dort auch transparente und strengere Regelungen für die private Finanzierung von Parteien, die aber nach der Letta-Regierung, die nur 10 Monate in Amt war, von den Nachfolgern nicht realisiert wurden. Mit der Folge, dass Wirtschaft und organisierte Kriminalität es leichter haben, sich mit Schmiergeldern an korrupte Politiker und Amtsträger Vorteile zu verschaffen.
Im Zusammenhang mit der Korruptionsaffäre in Ligurien hat jetzt der Leader der Zentrumspartei Calenda einen Versuch zur Beseitigung dieser Lücke getan: Er hat einen Gesetzesentwurf eingebracht, der es Unternehmen verbietet, die geschäftliche Beziehungen zu staatlichen bzw. öffentlichen Entscheidungsinstanzen unterhalten, Spenden und Zuwendungen an Parteien und Repräsentanten öffentlicher Behörden zu tätigen. Auch wenn die Rechte diesen Vorschlag kaum aufgreifen wird: die Oppositionsparteien sollten ihn unterstützen.
Die Reaktionen der Parteien
Seit dem Bekanntwerden der Korruptionsvorwürfe und der Verhaftungen fordern Mittelinks und die 5Sterne Toti zum unverzüglichen Rücktritt von seinem Amt auf. Auch wenn bis zu einem gerichtlichen Urteil die Unschuldsvermutung gelten müsse, sei es ein Gebot des Anstands und der politischen Verantwortung, dass der Regionspräsident angesichts solch gravierender Vorwürfe sein Mandat zurückgibt.
Auf Seiten der politisch „befreundeten“ Parteien sind die Reaktionen unterschiedlich. Lega-Chef Salvini betrachtet einen solchen Schritt als „Kapitulation“. Man müsse erst die drei gerichtlichen Instanzen abwarten. Und setzte hinzu: „Wenn alle Amtsträger, gegen die ermittelt wird, zurücktreten würden, wäre Italien lahmgelegt“. Der einstige Parteifreund Tajani, Leader von FI, äußert sich abwartend. Toti müsse selbst einschätzen, ob ein Rücktritt opportun sei. Und kann sich in guter berlusconischer Tradition einen Seitenhieb gegen die Justiz nicht verkneifen. Mit Anspielung auf die anstehende Europa-Wahl erklärte er: „Es geht um Angelegenheiten, die schon vor Jahren bekannt waren. Vielleicht hätte man schon vor ein paar Monaten intervenieren können“.
Und Meloni? Die Regierungschefin hält sich mit Stellungnahmen auffällig zurück. Mit Blick auf negative Auswirkungen auf den Europa-Wahlkampf würde sie sicher vorziehen, dass Toti so bald wie möglich seinen Hut nimmt, damit der Fall Ligurien durch eine Interimslösung (am besten mit jemanden aus ihrer eigenen Partei) aus der Schusslinie kommt. Direkten Druck will sie aber nicht ausüben, weil sie vermeiden will, dass die Opposition davon profitiert. Also lautet ihre Parole (noch): „Wir warten auf seine (Totis, MH) Antworten“.
Nicht allein ein Problem der Rechte
Korruption und illegale Verflechtungen zwischen Politik und Wirtschaft sind keine Domäne der Rechten und Moral und Gesetzestreue keine „linken Tugenden“, wie zahlreiche Beispiele aus der italienischen Geschichte belegen. Um nur eines zu nennen: In April, kurz vor dem Eklat in Ligurien, ist es in der von Mittelinks regierten Region Apulien zu Ermittlungen und mehreren Verhaftungen von engen Vertrauten des mächtigen Regionspräsidenten Michele Emiliano (PD) gekommen. Wegen Stimmenkaufs, Schmiergeldern bei der Vergabe von Aufträgen, verdeckten Zuwendungen und Geschenken von Unternehmen an Politiker und Verwaltungsleute etc. Die ganze Palette. Gegen Emiliano selbst wird nicht ermittelt, aber er steht dennoch im Fokus der Kritik, weil er gegenüber Verfehlungen in seinem nahen Umfeld mehrfach „ein Auge zugedrückt“ habe.
Die „moralische Frage“ bleibt in Italien zentral und hat enorme Auswirkungen auf die demokratische, politische und wirtschaftliche Stabilität des Landes. Sie kann und darf nicht zum Instrument für parteipolitische Machtspiele verkommen. Egal von welcher Seite.
Das Wichtige an diesem Kommentar ist nicht die Thematisierung der in Italien scheinbar unausrottbaren Korruption am aktuellen Beispiel der Regionalregierung in Ligurien. Was hatte man denn von einem noch aus der Berlusconi-Zeit verbliebenen Regierungssumpf auch anderes erwartet?! Wichtig und bemerkenswert ist hingegen vorallem der Abschluss des Kommentars, wo der Autor, zweifellos mit einer linken politischen Erbschaft im Rücken, deutlich macht, daß die politische ‚Rechte‘ in Italien‘ kein Monopol auf Korruption besitzt. Wenn doch diese Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit in allen politischen Himmelsrichtungen wenigstens etwas verbreiteter wäre in Italien, dann könnte man sich vielleicht irgendwann einmal weniger Sorgen machen um dieses Land und letztlich auch um Europa. So aber wartet man nur mit leider wachsender zynischer Geduld auf den nächsten Skandal, wissend, daß sich in diesem Land zu unseren Lebzeiten wohl nichts ändern wird. ‚Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechtens besser aus‘, wie es in den deutschen Bauernkriegen hieß. Speriamo…
Carl Wilhelm Macke ( München/ Ferrara )