Hat sich Meloni verrechnet?
Noch vor wenigen Tagen, unmittelbar vor der Europa-Wahl, erklärte Ursula von der Leyen, die Kommissionspräsidentin und (noch) Kandidatin der EVP für ein zweites Mandat, sie schließe zwar eine Zusammenarbeit mit der Fraktion „Identität und Demokratie“ (zu der, nach dem Rauswurf der AfD, noch Le Pens Rassemblement National und Savinis Lega gehören) aus, nicht aber mit den „Konservativen und Reformisten/EKR“, deren Vorsitzende Giorgia Meloni ist. Denn diese sei „ganz klar gegen Putin, proeuropäisch und pro Rechtsstaat“. Abgesehen von Punkt 1 („gegen Putin“), sind die übrigen Bewertungen, die Von der Leyen zur Rechtfertigung eines Bündnisses mit Meloni nennt, befremdlich. Die national-souveränistische Meloni (Leitspruch: „Gott, Vaterland, Familie“) und Busenfreundin Orbans – „proeuropäisch“? Die Postfaschistin, die sich weigert, aus dem Parteilogo die Flamme zu entfernen, das ewige Andenken an den „Duce“, und die mit der Direktwahl des Regierungschefs, der Monopolisierung der Medien und der Rücknahme von Bürgerrechten in Italien eine „illiberale Demokratie“ nach ungarischem Modell etablieren will, sei „pro Rechtsstaat“?
Von der Leyen weiß genau, dass Melonis „ Fratelli d’Italia“ im EU-Parlament fast immer gemeinsam mit der ultrarechten ID-Fraktion stimmte, zu der bis vor Kurzem noch die AfD gehörte, auch gerade bei entscheidenden Themen wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie: so bei den Resolutionen gegen die ungarische Regierung wegen „vorsätzlicher Verletzung der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte“ und gegen dem Abbau des Rechtsstaats in Polen unter der PiS-Regierung.
Bei ihrer Wahlkampfkundgebung am 1. Juni in Rom (übrigens ihrem einzigen Wahlkampfauftritt – anders als PD-Chefin Elly Schlein, die innerhalb von zwei Monaten mit über 100 Kundgebungen und Veranstaltungen ganz Italien bereiste) ließ Meloni keinen Zweifel daran, wofür sie steht. Das Motto der Kundgebung: „Italien ändert Europa“. Es gehe um ein Referendum über zwei verschiedene Visionen von Europa. Auf der einen Seite das Europa der Linken, die aus ihm „ein Surrogat des sowjetischen Dirigismus“ machen wolle, und auf der anderen ein „Europa der Nationen, das deren spezifische Interessen respektiert“, das die (souveränistische) Rechte anstrebe. Vor allem forderte Meloni „ein Plebiszit“ für sich selbst. Voller Selbstmitleid appellierte sie an ihre Anhänger : „Ich habe auf alles verzichtet nur, weil ich euch nicht enttäuschen wollte, jetzt erwarte ich, dass ihr an meiner Seite steht!“.
Letzte Umfragen deuten allerdings nicht auf ein Plebiszit hin, sondern zeigen einen Trend nach unten: demnach würde die FdI 26,5% erreichen (-2%). Ursprünglich hatte Meloni als Ziel 30% angegeben, inzwischen hat sie es auf 26% nach unten „angepasst“. Die PD liegt als zweitstärkste Kraft inzwischen bei 22,5% (+1%).
Die Prognosen sind also „in Bewegung“, auch für den Kommissionsvorsitz. Von der Leyens ohnehin „wackelige“ Chancen sind nach ihrem erneuten Statement pro-Meloni weiter gesunken. Inzwischen hat auch Scholz eine Unterstützung ihrer Kandidatur – ohne Namen zu nennen – ausdrücklich ausgeschlossen: „Für mich ist klar, wenn die nächste Kommission gebildet wird, darf sie sich nicht auf eine Mehrheit stützen, bei der es auch die Unterstützung von Rechtsextremen braucht“, erklärte er während eines Besuchs in Portugal vor Journalisten.
Der Frage, wer nach der Wahl wirklich „die Karten geben wird“, wie die Italiener sagen, geht auch der Repubblica-Journalist Claudio Tito im nachfolgenden Artikel vom 29. Mai nach. Unabhängig davon, ob man seiner Einschätzung in allen Punkten folgt – zum Beispiel in Bezug auf eine mögliche Überschätzung der Rolle von Scholz und Macron, deren Parteien aus der Europa-Wahl mit hoher Wahrscheinlichkeit geschwächt hervorgehen werden – ist sie bedenkenswert. Hier der Artikel in deutscher Übersetzung:
Wer wirklich in Europa zählt
Wenn man die Propaganda innerhalb der nationalen Grenzen hinter sich lässt, zeigen die Lügen plötzlich, wie kurz ihre Beine sind. Giorgia Meloni, die sich in den Wahlkampf mit der Hoffnung begeben hat, es werde zu einem Plebiszit kommen, das ihre Leadership stärkt, überschwemmt derzeit die Wähler mit einer Flut von Selbstbeweihräucherungen. Mit dem Versuch, den Italienern weiszumachen, dass sie der Europäischen Union ihren Willen aufgezwungen habe, dort die Debatten bestimme und die wichtigsten in Brüssel beschlossenen Maßnahmen bewirke, begeht sie den typischen Fehler von Chefs schwacher Regierungen
Das trifft nicht zu und ist nie so gewesen. Der neueste Beleg dafür kam gestern (28. Mai, MH) aus Berlin, während des Treffens zwischen Bundeskanzler Scholz und dem französischen Staatspräsidenten Macron. Der erneute Händedruck zwischen Frankreich und Deutschland hat uns mal wieder vor Augen geführt, wie fragil die Glaubwürdigkeit von Italiens rechter Regierung ist. Und wie die italienische Ministerpräsidentin dabei ist, zu einer Art „umgekehrten König Midas“ zu werden: Was sie anfasst, wird nicht zu Gold, sondern zu Mürbeteig. Der schnell verdirbt und in Stücke zerfällt.
Denn beim Gespräch in Berlin hat sich herausgestellt, was eigentlich schon lange klar war: Die nächsten Spitzenposten der europäischen Institutionen werden nur mit der Zustimmung von Paris und Berlin besetzt. Und wenn Von der Leyen eine Chance auf ein zweites Mandat als Kommissionspräsidentin haben will, muss sie auf die Freundschaft mit Meloni verzichten. Das bedeutet, sie muss explizit auf die radikale Rechte verzichten. Auf jene der EKR – also von Melonis Konservativen – sowie auf die, noch extremere, von Identität und Demokratie. Andernfalls wird man nach einer anderen Persönlichkeit suchen, die in der Lage ist, die Funktion der/des Kommissionsvorsitzenden zu übernehmen.
In diesem Rahmen treten zwei Aspekte hervor. Der erste betrifft die Politik: Die Souveränisten schaffen es nicht, das europäische Spiel wirklich entscheidend mitzuspielen. Denn die grundsätzliche Europa-Skepsis, die all ihre Positionen prägt, löst automatisch bei den Pro-Europäern und den europäischen Institutionen einen Schutzreflex aus. Es gibt eine Art „Cordon Sanitaire“, der schon früher alle „Post-Faschisten“ als unwürdig von den Kommandozentralen fernhielt und nun auch den Integrationsprozess der EU schützen soll.
Der Rechtspopulismus verfügt über eine große Fähigkeit: Er erzielt Zustimmung, indem er „den Bauch“ der Bürger anspricht. Er will Bedürfnisse mit einfachen, aber undurchführbaren Rezepten befriedigen. Sind Rechtspopulisten dann an der Regierung, wissen sie nicht, wie sie ihre Versprechungen einlösen können. Weil dies einfach nicht möglich ist. Mit der Konsequenz, dass der Souveränismus versucht, alles einzubinden, was sich ihm nähert. Die italienische Ministerpräsidentin ist dabei, genau diese Wirkung bei Von der Leyen zu erzielen. Die scheidende Kommissionsvorsitzende hatte vor, mit Rom eine taktische Allianz zu schmieden, um einen breiten Konsens für ihre Kandidatur zu gewinnen. Doch herausgekommen ist genau das Gegenteil. Die italienische Regierung ist dabei, zu einem Zankapfel zu werden, der für jeden, der in ihn beißt, zum Verhängnis wird.
Das betrifft übrigens nicht nur Fratelli d’Italia und die Lega. Sondern vielmehr die gesamte europäische Rechte, die ihre eigene Geschichte noch nicht verarbeitet hat. Zum Beispiel jene, die in Deutschland die nazistische Wunde wieder aufgerissen hat. Und die, die in Spanien in einen Konservatismus religiöser Prägung abrutscht und Nostalgie gegenüber der Franco-Diktatur hegt. Und natürlich jene Rechte, die es in Italien nicht schafft, sich von der faschistischen Flamme zu befreien, weil sie sich nicht von den Wurzeln einer dramatischen Vergangenheit trennen will.
Es ist daher kein Zufall, dass nirgendwo, wo sich in Europa eine souveränistische Kraft behauptet, sich diese als fähig erweist, eine Regierung zu führen. Sie verschließt sich vielmehr in sich selbst und hofft auf die Lösung der Probleme – während sie diese im Gegenteil vergrößert. Das neueste Beispiel dieser Unfähigkeit sind die Niederlande. Dort gewinnt der Souveränist Wilders, aber als Premierminister muss er nach einem „Techniker“ rufen.
Der zweite Aspekt ist noch gravierender, zumindest für das (italienische, MH) „Nationalinteresse“: Der „Scholz-Macron-Pakt“ bestätigt, dass Italien nicht mehr in der Lage ist, bei den großen Entscheidungen in Europa eine Rolle zu spielen. Das „Dreieck“, das Mario Draghi vor 18 Monaten bildete, besteht nicht mehr. Melonis Mannschaft übt keinen Einfluss aus. Und wenn, dann nur in Bezug auf nachrangige Angelegenheiten. Beim neuen Stabilitätspakt zum Beispiel – dem tragenden wirtschaftlichen Grundpfeiler der Union – war die italienische Regierungschefin nicht beteiligt. Fehlanzeige. Ausgehandelt haben alles die beiden historischen Bündnispartner Europas. Die auch jetzt das Ergebnis ihres Gipfeltreffens unisono so zusammenfassten: „Wir einigen uns immer“, und die zur feierlichen Bekräftigung ihrer Einigkeit vierhändig einen Artikel schrieben, den die Financial Times veröffentlichte. Dort mahnen sie, Europa befinde sich „am Scheideweg“. Von wegen „weniger Europa“, wie die Vertreter unserer Rechte immer wieder behaupten.
Wollte Italien in Europa zählen , müsste es die Kraft entwickeln, sich in die Flugbahn Paris-Berlin einzufügen. Stattdessen entscheidet es sich für den engen Umkreis angeblicher „Freunde“, die sich in der Praxis als schlimmste „Feinde“ erweisen. So war und ist es immer wieder Orban, der alle gemeinsamen Initiativen blockiert. Und die neue rechte Regierung der Niederlande will in Bezug auf den europäischen Asylpakt von dem sogenannten „opt-out“-Recht (Zurücknahme des Einverständnisses, MH) Gebrauch machen. Das heißt, sie wird versuchen, die von der EU beschlossenen kleinen Schritte zu einer solidarischen Regelung der nicht regulären Einwanderung nicht umzusetzen.
Die Mehrheit, die demnächst über die Spitzenpositionen in der Europäischen Union entscheidet, wird daher nicht durch die Rechte bestimmt werden. Sondern wird ihren Schwerpunkt im Kompromiss zwischen Sozialdemokraten und Europäischer Volkspartei haben. Möglicherweise mit Hilfe der Grünen, vor allem dann, wenn Ursula von der Leyens Ambitionen scheitern. In diesem Fall wird die/der deutsche EU-Kommissar/in ein/e Umweltschützer/in sein, möglicherweise die gegenwärtige Außenministerin Baerbock. Melonis Fake News zum Trotz, welche eine Mitterechts-Koalition in Brüssel imaginieren.