Die Spaltung der Rechten
Es kam anders, als alle dachten, manche erhofften und viele – darunter auch wir – befürchteten: ein Kantersieg der Ultrarechten in Frankreich, der die bisherige europäische Kerngruppe getroffen und die EU mit dem Rücken an die Wand gestellt hätte. Die Sterne für einen solchen Angriff schienen günstig zu stehen: Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat, mündet in einen Abnutzungskrieg, in dem Putin am längeren Hebel sitzt, weil er sich in seinem imperialen Traum um seine humanen und sachlichen Ressourcen keine Sorgen machen muss. Und der es den europäischen Nachbarn zunehmend nahelegt, sich in einen Pazifismus zu retten, der die Ukraine um des lieben Friedens willen opfern und mit der Verweigerung weiterer Waffenhilfe beginnen würde.
Der zweite noch konkretere Hoffnungsanker für die Ultrarechte ist – bis heute – die im Herbst in den USA anstehende Präsidentschaftswahl, wo (wenn Biden bei seiner Kandidatur bleiben sein sollte) alles auf den Sieg Trumps zuzulaufen scheint, mit der Folge, dass das atlantische Bündnis seine bisher wichtigste Stütze verlieren würde.
Orbans Pläne
Dass Orban noch weitergehende Pläne hat, zeigt der Paukenschlag, den er mit Spießgesellen wie Salvini schon lange abgesprochen hatte und der den erwarteten Sieg Le Pens begleiten sollte: Die Gründung der neuen ultrarechten Gruppe „Patrioten für Europa“, der sich im Europaparlament nicht nur die Abgeordneten von Orbans Fidesz, sondern auch von Le Pens RN, Salvinis Lega, der FPÖ und schließlich auch der spanischen VOX anschlossen, die bisher noch zu Melonis EKR-Gruppe gehörten und direkt „überliefen“. Die neue Gruppe wurde auf Anhieb nach der EVP und den Sozialisten und noch vor Melonis Konservativen (EKR) zur drittgrößten Gruppe im Europarlament. Mit ihr werde ein neuer Akteur die europäische Bühne betreten – so offenbar Orbans Kalkül, das auch Salvini einleuchtete -, der auf eine EU stoßen würde, die durch den erhofften Ausgang der französischen Wahlen schon halb sturmreif geschossen wäre.
Der Plan war wohl durchdacht, auch wenn er gleich mit einer Teilniederlage begann, wo sie am wenigsten erwartet wurde: Der Durchmarsch Le Pens in Frankreich kam nicht zustande. Ihre Partei Rassemblement National blieb zwar die relativ stärkste Partei, aber steht nun im französischen Parlament zwei Bündnissen im Zentrum und auf der Linken gegenüber, die beide stärker sind als sie. Zwar hat Macron einen erheblichen Teil seiner Machtbasis verloren, wie auch noch unklar ist, ob die beiden Wahlsieger fähig sein werden, eine handlungsfähige Regierung zustande zu bringen, aber der Weg nach ultrarechts scheint vorerst verbarrikadiert. Worauf in Italien beide Lager mit Erklärungsmustern reagierte, die ihren jeweiligen Erfahrungen entsprechen: Die italienische Linke sieht sich in ihrem Rezept möglichst breiter Aktionseinheiten bestätigt, und die italienische Rechte hat einen weiteren Grund, um die verhassten Stichwahlen abzuschaffen.
Dies bedeutet nun allerdings nicht, dass damit auch die anderen Teile von Orbans Plan wirkungslos bleiben. Denn ihm ist gerade die Rolle des amtierenden Ratspräsidenten zugefallen, der sein Amt zu dem Versuch nutzen kann, um die EU in Sachen Ukraine-Krieg zu übertölpeln. Hier war es ausgerechnet eine russische Tageszeitung, die Iswestija, welche die Interpretation lieferte, die nur auf den ersten Blick abenteuerlich erscheint: Seine Reisen nach Moskau und Peking seien mit Donald Trump abgesprochen, um dem erwarteten nächsten US-Präsidenten berichten zu können, unter welchen Bedingungen sich Russland und China auf einen Waffenstillstand einlassen würden. Woraufhin auf dem Nato-Gipfeltreffen in Washington, so die „Repubblica“, die anwesenden europäischen Regierungschefs schon beraten hätten, wie man Orban die Ratspräsidentschaft wieder entziehen, wenn nicht gar aus der EU überhaupt ausschließen könne (viel herausgekommen scheint dabei aber nicht zu sein). Inwieweit Giorgia Meloni, die ja ebenfalls in Washington anwesend war und bisher als Orbans Bewunderin galt, in diese Gespräche einbezogen wurde und wie sie sich dabei verhielt, wissen wir nicht – aber nun ist auch den europäischen Medien zu entnehmen, dass Orban nach seinem Aufenthalt in Washington gleich zu Trump weiter gereist ist.
Die Drohung mit Melonis Isolierung
Auch Orbans zweiter Schachzug, die Gründung der Gruppe „Patrioten für Europa“, hat die Machtverhältnisse innerhalb der europäischen Ultrarechten verändert (die Fraktion der „Patrioten“ verfügt nun über 84 Abgeordnete, davon 30 Lepenisten, die der „Konservativen“ nur noch über 78). Was nicht nur einen Prestigeverlust für Meloni bedeutet, die immerhin die Chefin der europäischen „Konservativen“ ist, sondern sich auch gegen ihre Politik der „zwei Gesichter“ richtet: illiberal nach innen, aber antiputinistisch und proatlantisch nach außen. Ebenso wie es sich gegen ihre Europapolitik richtet, die den „Patrioten“ nicht destruktiv genug ist, weil sie ihre Zustimmung zur Wiederwahl von der Leyens erwägt und daraus ein Geschäft mit Gegenleistungen machen möchte, und damit zur Legitimation des Brüsseler Machtapparats beitragen würde. Der antieuropäischen Rechten ist das ein Dorn im Auge, was Salvini sofort auf den Punkt brachte: „Für uns – und damit meint er die ‚Patrioten‘, zu deren Sprecher er sich hier ernennt – ist von der Leyen untragbar. Ich verstehe, dass Giorgia hier als Regierungschefin denkt. aber wenn sie diese dann letztlich doch wählt, werdet ihr sehen, dass das ihr Ende sein könnte“.
Mit dieser Drohung und der größeren Gruppe im Europaparlament im Rücken bläst Salvini zum Generalangriff auf Melonis Versuch, als italienische Regierungschefin über die Brücke zu Ursula von der Leyen einen Fuß in der Tür zu den Entscheidungszentren der EU offenzuhalten. Neben die unverhohlene Drohung mit ihrem politischen „Ende“ tritt die Einladung, Giorgia Meloni könne sich doch auch, möglichst gleich mit all ihren „Konservativen“, der neuen „Patrioten“-Gruppe anschließen: „In Zukunft könnten wir doch wieder in der gleichen Gruppe sein“, erklärt scheinbar tröstend der Führer von Vox; „die Brücken sind nicht abgebrochen“, sagt ein Sprecher von Le Pens RN.
Eigentlich sollte die Gründung der „Patrioten“ die rechte Machtübernahme in Frankreich flankieren. Seitdem diese vorerst gescheitert ist, wird die Neugründung zu einer Art Kompensation, und versuchen jetzt Orban und Salvini, unter Androhung ihrer völligen Isolation nun auch Meloni – im wahrsten Sinn des Wortes – auf Vordermann zu bringen. Wobei die Aufforderung zum Wechsel zu den „Patrioten“ nicht ohne Gift ist: Bei einem solchen Schritt würde Melonis Einfluss auf die Entscheidungen der Kommission wahrscheinlich auf Null sinken, und sie würde stattdessen in ein Revier geraten, in dem schon andere Platzhirsche das Sagen haben, und müsste zum Entrée alles abgeben, was ihren bisherigen Erfolg begründete: ihren Atlantismus und Antiputinismus. Und vor allem würde sie Salvini, ihrem Rivalen sowohl auf der europäischen als auf der innenpolitischen Bühne, die Chance bieten, sich zum Sieger des Duells zu erklären.
Die einzige Unterstützung, die Meloni gegenwärtig noch im rechten Lager erfährt, kommt von Tajani, ihrem Außenminister, der als FI-Mann zur EVP gehört und den Kurs Melonis gegenüber von der Leyen befürwortet: Die Drohung von Salvini, dass ihre Wahl Ursula von der Leyens ihr politisches Ende bedeuten würde, kommentiert er mit dem Hinweis, dass Orbans „Patrioten“ in Brüssel „völlig einflusslos“ seien, ihr also Salvinis Drohung nichts anhaben könne (was allerdings voraussetzt, dass sie ihrem standing in Brüssel mehr Wert beimisst als ihrem standing bei Orban und Konsorten).
Melonis Reaktion
Das muss man Meloni lassen: Trotz ihrer alten Loyalitäten, vor allem zu Orban, ist bei ihr kein Einknicken zu erkennen. Das letzte Indiz ist dafür ihr Verhalten bei dem Nato-Gipfel in Washington: Während Salvini in Italien wieder einmal erklärte, „je mehr Waffen geschickt werden, desto länger dauert der Krieg“, spricht sich Meloni in Washington ohne Einschränkungen für die Fortsetzung der Hilfen an die Ukraine aus, kündigt nebenbei eine Erhöhung der italienischen Verteidigungsausgaben an und schlägt vor, dass Italien die Aufgabe eines Bevollmächtigten für die Nato-Südflanke übernehmen könnte, um etwas dem russischen und chinesischen Vormachtsstreben in Afrika entgegenzusetzen. Und wehrt höflich alle Versuche von Trumps Emissären ab, mit ihr wie zu den anderen europäischen Delegationen in Washington Kontakt aufzunehmen. Im Unterschied zu Salvini scheint sie zumindest vorerst auf Bidens Sieg zu setzen – wie sie sich verhält, wenn Trump gesiegt haben sollte, muss sich allerdings noch zeigen.
Aber ein Schwachpunkt bleibt: Während sich die europäische Rechte zunehmend polarisiert, bleibt sie Premierministerin einer Regierung, in der sich die Antipoden, die sich auf europäischer Ebene offen bekämpfen, weiterhin in einem Kabinett gegenübersitzen, als ob nichts den Koalitionsfrieden stören könne. Dabei haben sie längst begonnen, vor allem auf dem Gebiet der Außenpolitik – EU, Ukraine-Krieg, Verhältnis zu den USA – gegeneinander zu arbeiten. Meloni hat verschiedentlich betont, auf jeden Fall für die volle Legislaturperiode im Amt bleiben zu wollen, wofür sie dann aber immer wieder die Differenzen mit ihrem Koalitions-„Partner“ Salvini für beherrschbar erklären muss. Die Frage ist, wie lange sie dies durchhalten kann.