„Zwei Gesichter“ ade
Bis zum Schluss blieb es ein Geheimnis, vielleicht war es aber auch nur ein Ausdruck von Ratlosigkeit: das Abstimmungsverhalten von Meloni bzw. ihrer Partei im EU-Parlament zur Kandidatur der alten und neuen Kommissionspräsidentin Von der Leyen. Erst nach der Abstimmung gab der Vertreter der Fratelli d’Italia bekannt, seine Fraktion habe mit „Nein“ gestimmt. Zumindest offiziell. Denn es kursieren Gerüchte, ca. 10 der FdI-Abgeordneten hätten in der Wahlurne doch ein „Ja“ angekreuzt und manche Kommentatoren vermuten, dass dies im vertraulichen Gespräch zwischen Meloni und Von der Leyen als Tauschgeschäft vereinbart wurde, um im Gegenzug ein paar Zugeständnisse seitens der Kommissionschefin für Italiens Regierung zu erreichen.
Melonis Entscheidung: gegen Europa, für nationalistische Ultrarechte
Was bleibt und am Ende zählt, ist Melonis politische Entscheidung, die sich nicht nur gegen die einstige „Freundin“ Von der Leyen richtet, sondern vor allem gegen ein stärkeres Europa, und für ein Zusammengehen mit den antieuropäischen, ultranationalistischen und putinfreundlichen „Patrioten für Europa“.
Bis zuletzt hatte die italienische Regierungschefin versucht, an ihrer Taktik der „freien Hände in allen Richtungen“ festzuhalten, in der Hoffnung, das politische Gewicht der Stimmen ihrer Partei zu steigern. Herausgekommen ist das Gegenteil: Die Allianz von EVP, Sozialdemokraten und Liberalen für Von der Leyen hat sich – trotz unterschiedlicher Meinungen innerhalb der EVP dazu -, nicht in Richtung EKR geöffnet, sondern die Grünen mit an Bord genommen, die mit ihren 50 Stimmen die der „Heckenschützen“ aus den Reihen des „Ursula-Bündnisses“ neutralisieren konnten und somit wahlentscheidend waren. Auf der anderen Seite hat die neue rechtsextreme Fraktion der „Patrioten“, zu der Melonis Koalitionspartner Salvini und ihr Freund Orbán gehören, als drittstärkste Gruppe die EKR überholt und den Druck auf Meloni erhöht, Farbe zu bekennen. „Wenn sie sich für ein ‚Ja‘ zu Von der Leyen entscheidet, ist sie politisch am Ende“ hatte ihr Vizepremier Salvini – nicht gerade loyal – der eigenen Chefin prophezeit.
Die Entscheidung ihrer Partei für das „Nein“, erklärte Meloni, sei kohärent mit der schon im Europäischen Rat eingenommenen Position (sie hatte sich damals allerdings „nur“ der Stimme enthalten, Anm. MH), wonach „aus Sach- und Verfahrensgründen“ eine Bestätigung Von der Leyens nicht möglich sei. Nicola Procaccini, EKR-Abgeordnete von FdI, äußerte sich konkreter: vor allem die Einbeziehung der Grünen in das „Ursula-Bündnis“ sei für das negative Votum von FdI entscheidend gewesen.
Mit dem „Nein“ von Meloni zur Wiederwahl Von der Leyens dürfte sich das Narrativ über die „pragmatische“ und „ach nicht so schlimme“ Meloni, das in ausländischen Medien (nicht zuletzt den deutschen) gerne gepflegt wurde, erledigt haben. Dass damit endgültig die unhaltbare These einer „doppelgesichtigen“ Meloni aus der Welt geschaffen wurde – immer schwebend zwischen dem Versuch, mit den europafreundlichen Konservativen Kompromisse einzugehen, und dem Drang, dem Ruf der populistischen und reaktionären Rechten zu folgen – sei der einzige Vorzug dieses „Nein“, schreibt Massimo Giannini in der „Repubblica“. Denn es kläre ein für allemal Melonis wirkliche Natur; wenn sie zwischen dem moderaten Kurs und einem zerstörerischen Radikalismus wählen müsse, entscheide sie sich immer „allen Verstellungen und Verkleidungen zum Trotz“ für die zweite Option.
Die Folgen – auf europäischer/ internationaler Ebene …
Das Votum ihrer Partei gegen Von der Leyen werde keine negative Auswirkungen auf die Zusammenarbeit mit der Kommission und auf die Stellung Italiens in der EU haben, hatte Meloni öffentlich versichert. Sie kann aber kaum so naiv sein, selbst an eine so unrealistische Einschätzung zu glauben. Natürlich wird die EU-Kommission Italien deswegen nicht „bestrafen“ oder irgendwie benachteiligen, sei es bei zu treffenden politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen oder bei Personalfragen. Ein solches Verhalten wäre formal und sachlich nicht korrekt und ist auszuschließen. Zu erwarten aber ist, dass Italien nicht mehr mit dem bisherigen Entgegenkommen der Kommission bei wichtigen Fragen rechnen kann, u. a. bei der Umsetzung des milliardenschweren Nationalen Recovery Plan/PNRR, der von der EU mit finanziert wird. Die Bereitschaft der Kommission zu einer flexiblen Handhabung wird abnehmen, man wird strenger auf die Einhaltung zeitlicher und inhaltlicher Vorgaben achten.
Ähnliches gilt für das Defizitverfahren, das gegen Italien (und weitere fünf Länder) wegen zu hoher Staatsschulden eingeleitet wurde. Nach den Regeln des Stabilitätspaktes sieht dieses vor, dass das Defizit innerhalb von sieben Jahren unter 3% reduziert werden muss. Für Italien würde das Einsparungen von mindestens 13 Milliarden jährlich und noch engere Spielräume für die kommenden Haushalte bedeuten – bei Steuern und Renten, im Gesundheitswesen, bei der Bildung und bei Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft.
Auch auf der Ebene der internationalen Politik sind Änderungen zu erwarten. Die Entscheidung Melonis, sich bei der Wahl am 18. Juli auf die Seite von Le Pen, Orbán und Salvini zu stellen, wird von der Kommission und vielen Mitgliedstaaten auch als eine Positionierung der italienischen Regierung zugunsten von Trump gewertet. Eine Einschätzung, die durch Äußerungen Melonis bestätigt wird. Auf Fragen von Journalisten hat sie kürzlich so geantwortet: „Italien und die USA haben sehr solide Beziehungen, die sich trotz Regierungswechseln nicht verändern. Natürlich kennt ihr meine politischen Überzeugungen und wisst, dass ich Präsidentin der europäischen Konservativen bin. Und ihr wisst auch, dass auf globaler Ebene auch die republikanische Partei bei den europäischen Konservativen eingeschrieben ist“. Deutliche Hinweise zugunsten von Trump, die nicht zuletzt zu einer veränderten Haltung bei der Unterstützung der Ukraine führen könnte – der einzige, wichtige Punkt, bei dem Meloni sich bisher von ihren souveränistischen Freunden klar abgegrenzt hat.
…und innerhalb der Regierungskoalition
Die Europa-Wahlen und die daraus folgenden Entwicklungen haben die Zerrissenheit der von Meloni angeführten Rechtskoalition deutlich ans Licht treten lassen und weiter verschärft. Die drei Parteien der Regierungsmehrheit – Fratelli d’ Italia, Forza Italia und Lega – sind nicht nur im Wahlkampf, sondern auch bei den Entscheidungen über die Besetzung der EU-Spitzenposten getrennte Wege gegangen. Besonders drastisch hat sich Lega-Chef Salvini, mit seinem Wechsel zu den „Patrioten“ von Le Pen und Orbán und einer aggressiven antieuropäischen Kampagne, von seinen beiden Bündnispartnern abgesetzt.
Doch auch zwischen Tajani, Leader von Forza Italia und Außenminister, und der Regierungschefin sind die Spannungen gewachsen. Vergeblich hatte Tajani für eine Zustimmung Melonis bzw. ihrer Partei zur Wiederwahl Von der Leyens und für eine Öffnung der EVP zu den „Konservativen und Reformern“ plädiert. Stattdessen haben sich die Fratelli d’Italia mit ihrer Nein-Stimme auf die Seite der Ultrarechten geschlagen. Forza Italia kontert jetzt damit, dass sie sich bei einigen wichtigen Vorhaben der Regierung quer stellt. Das betrifft vor allem die Ausweitung der regionalen Autonomie, die den Süden benachteiligt. Obwohl das Autonomie-Gesetz bereits vom Parlament beschlossen wurde, äußern Tajani und weitere FI-Vertreter nun Bedenken über mehrere Aspekte der Reform – u. a. das vorgesehene Verfahren zwischen Zentralregierung und Regionen, die eine erweiterte Autonomie beantragen – und stellen den Zeitplan für deren Umsetzung in Frage.
Salvini, für den das Steckenpferd der Lega, die Autonomie-Reform, absolute Priorität hat, droht bereits, er werde keine Verzögerung oder Verwässerung des Gesetzes hinnehmen. Die Ministerpräsidentin ist selbst kein Fan der erweiterten Autonomie, hält sich aber (bisher) aus dem Konflikt zwischen Lega und FI heraus, denn die Reform ist Teil eines Tauschgeschäftes zwischen ihr und Salvini: sie trägt das Lega-Vorhaben mit und Salvini unterstützt im Gegenzug die Verfassungsänderung zur Direktwahl des Ministerpräsidenten (bzw. der Ministerpräsidentin), die für Meloni von zentraler Bedeutung ist.
Wie stark das Zerwürfnis innerhalb der Regierungskoalition bereits ist, zeigt auch eine Stellungnahme des stellvertretenden Vorsitzenden der FdI-Fraktion im Senat, Roberto Speranzon, der ein enger Vertrauter Melonis ist: „Wir stellen (innerhalb der Koalition, Anm. MH) Fibrillationen infolge der Europa-Wahl fest, bei der im Zusammenhang mit der Abstimmung über die Kommissionspräsidentin ein paar Fetzen geflogen sind. Wir werden alles tun, damit alle Bündnispartner sich an der Realisierung des Regierungsprogramms beteiligen. Sollte es aber nicht gelingen, werden wir innerhalb der Koalition eine politische Grundsatzfrage stellen“. Womit er erstmals die Fortsetzung der Regierungsbündnisses in Frage stellt.
Kritischer EU-Bericht über Zustand des Rechtsstaates in Italien
Meloni hat sich also mit ihrer „Strategie der zwei Gesichter“ in eine Sackgasse hineinmanövriert und ist in Europa stärker isoliert als je zuvor. In dieser für sie und ihre Regierung angespannten Lage kam jetzt noch die Veröffentlichung des jährlichen Berichts der EU-Kommission über den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten hinzu, der sich sehr kritisch über Italien äußert. Eigentlich war der Bericht bereits vor einem Monat fertig, doch die Kommissionspräsidentin zog es vor (kein Wunder), das brisante Papier erst nach ihrer Wiederwahl im EU-Parlament aus der Schublade zu holen.
Seit 2020 nimmt die EU-Kommission in den Mitgliedsländern Schlüsselbereiche wie das Justizsystem, Maßnahmen gegen Korruption, Medienfreiheit und die Funktionsfähigkeit staatlicher Institutionen unter die Lupe. In dem aktuellen Bericht steht nach wie vor Ungarn an der Spitze der Negativbewertung, danach folgen die Slowakei und dann eben auch Italien.
Im Mittelpunkt der Kritik steht ausgerechnet Melonis „Mutter aller Reformen“: die Direktwahl des Ministerpräsidenten. Diese Reform würde das in der Verfassung verankerte System von „check and balances“ in Frage stellen und insbesondere die Rolle des Staatspräsidenten erheblich schwächen, und es bestünden Zweifeln daran, dass dadurch das von der Regierung angegebene Ziel einer größeren Stabilität erreicht werden könne. Als mangelhaft aus rechtsstaatlicher Sicht wird das Regierungshandeln auch in anderen zentralen Bereichen wie der Presse- und Informationsfreiheit bewertet (hier werden die Berichterstattung im öffentlichen Fernsehen und Verleumdungsklagen von Politikern und Amtsträgern gegen Journalisten genannt), und in der Justiz (u. a. wegen der Abschaffung des Straftatbestands des Amtsmissbrauchs in der öffentlichen Verwaltung und des politischen Drucks auf Richter und Staatsanwälte).
Die Diskrepanz zwischen diesen Aussagen – wohl bemerkt nicht in einem Oppositionspapier, sondern in einem Bericht der Europäischen Kommission – und dem strahlenden Bild, das Meloni und ihre Wasserträger täglich auf allen Kanälen von einer erfolgreichen Regierung und einem glücklichen, gesunden und stabilen Land zeichnen, könnte kaum größer sein.