„Von der parlamentarischen Demokratie können wir Abschied nehmen“
Vorbemerkung:
Unter dieser Überschrift veröffentlichte die „Repubblica“ am 19. Juni ein (von uns im Folgenden übersetztes) Interview mit Gaetano Azzariti, Professor für Verfassungsrecht an der römischen Universität „La Sapienza“. Es zeigt die Sorge, mit der heute seine Zunft auf die Reformvorhaben blickt, welche die Regierung zur Zeit durch beide Kammern zu peitschen sucht und die aus der Sicht der meisten von ihnen in die gleiche Richtung gehen: (1) die vor allem von Meloni gewollte Einführung des „Premierato“, das die Direktwahl des jeweiligen Premiers (männlich oder weiblich) durch das Volk und nicht durch das Parlament vorsieht; (2) die vor allem von Salvini gewollte erhöhte Autonomie der Regionen, die ihnen mehr Selbstverwaltungsrechte gegenüber dem Gesamtstaat zuweist und vor allem auf Kosten des ärmeren Südens geht, und (3) die Trennung der Laufbahnen von Richtern und Staatsanwaltschaften, welche den Teil der Justiz, der in Zukunft für die Erhebung von Anklagen zuständig ist, mehr als bisher den Weisungen des Justizministeriums unterstellen möchte – eine Forderung, die vor allem Tajanis Forza Italia (FI) interessiert. Sie erbte sie von ihrem einstigen Führer Berlusconi, der sich von der Trennung der Laufbahnen mehr Schutz gegen die zahlreichen Justizverfahren erhoffte, in die er aufgrund seiner Korruptheit verwickelt war.
Die „differenzierte Autonomie“ ist inzwischen Gesetz geworden; bei der Autonomie beginnt die Opposition gerade mit der Sammlung von Unterschriften, um ein Volksreferendum über seine Wiederabschaffung zu erzwingen, was in Italien die Verfassung in Art. 75 erlaubt. Das „Premierat“ und die Trennung der Laufbahnen befinden sich noch im parlamentarischen Verfahren.
Das Interview:
Ein Unglück kommt nie allein: das Premierat, die Autonomie der Regionen und die Trennung der Laufbahnen bei der Justiz. Würden Sie Ihren Schülern, die Verfassungsrecht an der Sapienza studieren, sagen, dass Italien auf dem Spiel steht?
„Es ist ein Faktum, keine Meinung, dass wir nicht mehr unsere Demokratie hätten, wie sie 1948 entworfen wurde, wenn die drei Reformen durchkämen. Wir würden die Verfassung verlieren, die als Vereinbarung zu verstehen ist, das Volk trotz aller Unterschiede zu vereinen.“
Ist es nicht Melonis Ziel, die Verfassung außer Kraft zu setzen?
„Das Ziel ist zumindest, sie zu nutzen, damit jeder Koalitonspartner seine eigene Wählerschaft mit einer der drei Reformen zufrieden stellen kann“.
Und warum kann dann Melonis Sprecher Balboni von einem Festtag sprechen?
„Das kann nur jemand feiern, der sich nicht wirklich in der republikanischen und antifaschistischen Verfassung wiederfindet“.
Apropos Antifaschismus: Betrachten Sie das Premierat als autoritär?
„Reden wir nicht von der Terminologie, sondern kommen wir gleich zur Substanz. Es gibt pluralistische oder identitäre Demokratien. Hier geht es schnurstracks in die zweite Richtung“.
Also ein Premier oder ein zukünftiger König bzw. eine zukünftige Königin, mit der Möglichkeit, dreimal gewählt zu werden?
„Das entscheidende Manko ist nicht die Direktwahl des Regierungschefs, sondern das Fehlen von Gegengewichten, das schon immer, von Aristoteles bis Montesquieu, als Faktor des Verfalls aller Regierungsformen ausgemacht wurde“.
Schon heute zählen die parlamentarischen Kammern wenig, wird es sie morgen nur noch auf dem Papier geben?
„Schon heute ist das Parlament der Regierung untergeordnet, es kann nur noch über Gesetzesdekrete abstimmen, und auf den wenigen Momenten von Autonomie lastet die Vertrauensfrage. In Zukunft wird die Mehrheit vom Premier an Händen und Füßen gefesselt sein, der die Kammern auflösen und alles nach Hause schicken kann“.
Entspricht den umfassenden Machtbefugnissen des Premiers ein „sehr kleiner“ Staatspräsident?
„Er wird keine von seinen substanziellen Befugnissen mehr haben, er wird der Notar sein, der offenbar verpflichtet ist, nur noch die Existenz eines schon gewählten Premiers zu ratifizieren oder die Kammern aufzulösen, wenn es der Regierungschef verlangt“.
Bleiben ihm also nur noch der CSM (Consiglio superiore Magiststratura, zu deutsch etwa „Oberster Rat für das Gerichtswesen“, HH) und das Verfassungsgericht?
„Ich weise vielmehr daraufhin, dass das nächste Staatsoberhaupt (wenn das Premierat durchkommt, HH) von einer gepanzerten parlamentarischen Mehrheit gewählt wird, die mit derjenigen identisch ist, die auch den Regierungschef gewählt hat. Seine Entscheidungen drohen also mit dem Willen des Regierungschefs übereinzustimmen, was die Unabhängigkeit seiner Ernennungen beeinträchtigt“.
Sie entziehen ihm auch die Ernennung von Ehrensenatoren.
„Leider haben wir es hier mit einer politischen Klasse der Unkultivierten zu tun, die mit Verachtung auf diejenigen herabblickt, welche – wie die Verfassung sagt – ‚dem Vaterland durch ihre hohen Verdienste Glanz gegeben haben‘, und ihnen stattdessen das Heer der eigenen Anhänger vorzieht“.
Bleibt Italien trotzdem eine Demokratie?
„Sie bleibt es für diejenigen, für die allein schon die Akklamation eines Capo Demokratie heißen kann“.
Mattarella greift das Thema auf…
Das Problem, das vor allem die zwei zuerst genannten Reformvorhaben aufwerfen, ist grundsätzlicher Natur, und wichtig genug, um auch Staatspräsident Mattarella auf den Plan zu rufen, der es Anfang Juli bei der Eröffnung der katholischen sozialen Woche in Triest ansprach. Worum es hier letztlich gehe, seien die Grenzen, die in einer liberalen Demokratie auch der Machtausübung der Mehrheit gesetzt werden müssen, um nicht in die autoritäre Falle zu geraten; „dem Absolutismus des Staates muss ein klares Nein entgegengesetzt werden“. Ebenso wie die Grenze, nicht die Rechte der Minderheiten zu verletzen, wozu auch ihr Recht gehöre, Mehrheit zu werden. „Niemals darf die Einheit und der Zusammenhalt der Italiener geschwächt werden“. Das richtet sich ebenso gegen Melonis Premierato, das möglichst viel Macht in einer Person vereinen will, wie auch gegen Salvinis „Autonomia differenziata“, die das oberste Gemeinwohl in die einzelne Region verlagern will. Dann der Gedanke, mit dem Mattarella wohl endgültig den souveränistischen Horizont der beiden übersteigt: „Wenn sich in der Vergangenheit die Demokratie in den Staaten verwirklichte, muss heute eine neue europäische Souveränität geschaffen werden, die der Souveränität der Mitgliedsstaaten erst die konkrete und nicht nur illusorische Substanz gibt“. Eine Souveränität noch oberhalb der des Einzelstaats zu imaginieren, ist für sie undenkbar.
… und löst einen Wettstreit zwischen Salvini und Meloni aus
Matteo Salvini, der von Mattarellas Gedankengang offenbar nur verstanden hat, dass man ihn ablehnen muss, schaffte es schon wenige Stunden nach Mattarellas Rede, die Dinge auf den Kopf zu stellen: Er sei zwar „kein Philosoph, sondern nur ein Politiker“, aber „wenn es hier ein Problem gibt, dann ist es die Diktatur der Minderheiten, nicht das Gegenteil“. Womit er offenbar die lästigen Schutzrechte meint, die nach Mattarella auch den Minderheiten bleiben müssen – was bedeutet, dass man sich auf einiges gefasst machen kann, denn damit hätte die Regierung einen Dauergrund für jeden weiteren Demokratieabbau gefunden. Wer meint, dass hier Giorgia Meloni doch wohl etwas wählerischer in ihrer Argumentation sein müsse, wird schnell eines Besseren belehrt: „Einen Absolutismus der (gegenwärtigen, HH) Mehrheit gibt es nicht“, sagte sie, aber den habe man „leider erlebt, als die Linke an der Regierung war … und die dir sagte, wann du dein Haus verlassen darfst und wann nicht – das ist der Absolutismus der Macht“. Womit sie wohl glaubt, wieder ein paar Punkte bei der No-Vax-Bewegung gemacht zu haben. Was Salvini, der sich von Meloni nicht überholen lassen will, gleich zu der Forderung überhöhte, sogar die Impfpflicht für Kinder abzuschaffen. Im Fernsehen ließ dann Meloni die Maske endgültig fallen: „Das Problem ist nicht der eine Mann, der das Kommando hat (womit sie sich offenbar auch selbst meint, HH), sondern ein System, in dem nur die PD an der Macht ist“.
Eine schöne Definition für das, was aus der Sicht einer „identitären Demokratin“ ein „System“ ist. Und mit der auch gleich geklärt ist, das es einen Machtmissbrauch nur von der Linken geben kann – an der Regierung oder in der Opposition.