Kampf um die Aufhebung eines Gesetzes
Dass die italienische Linke versucht, einen Volksentscheid gegen ein Projekt durchzusetzen, das die Rechtsregierung „differenzierte Autonomie“ nennt und für das sie kürzlich ein erstes Rahmengesetz durch das Parlament brachte, ist nicht selbstverständlich. Denn der Volksentscheid ist nicht nur riskant, was vor allem am Quorum für seine Gültigkeit liegt – die Mehrheit aller Wahlberechtigten muss sich an ihm beteiligen, wovon dann wiederum mehr als die Hälfte für die Rücknahme des Gesetzes sein muss -, sondern auch aus inhaltlichen Gründen:
- Erstens kann sich die „differenzierte Autonomie“ auf ein Verfassungsgebot berufen, das für Italien gilt, seitdem es Republik ist (die „Urfassung“ war der alte Art. 115: „Die Regionen sind autonome Körperschaften mit eigenen Befugnissen und Funktionen gemäß den in der Verfassung verankerten Grundsätzen“), aber bis heute noch nicht umfassend umgesetzt wurde.
- Zweitens steht hinter diesem Verfassungsgebot auch ein grundsätzliches Argument: In einer Demokratie ist es ratsam, nicht alle Entscheidungsbefugnisse an der gesamtstaatlichen Spitze zu versammeln, sondern auch Möglichkeiten zur „Partizipation von unten“ zu schaffen, durch die Einrichtung von Zwischenebenen mit eigenen Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnissen: in Regionen (bei uns heißen sie „Länder“), Provinzen und Kommunen. Wobei die politische Kunst darin besteht, die Machtbefugnisse so auszutarieren, dass man dabei das gesamtstaatliche Ziel der Gleichheit und des Wohlergehens aller seiner Bürger und Bürgerinnen nicht aus den Augen verliert.
Kein Gesetz aus einem Guss
Das setzt nun allerdings einen politischen Akteur voraus, der bei einer solchen Reform von vornherein beide Seiten im Auge hat: das Recht z. B. der einzelnen Regionen auf eigene Entscheidungsbereiche und das Gesamtinteresse, und der dafür ein Konzept „aus einem Guss“ entwickelt. Aber genau an diesem Punkt beginnt das Problem, und zwar schon aus historischen Gründen: Der politische Akteur, der jetzt das Projekt in Italien verfolgt, ist eine Rechtsregierung, die dafür ganz heterogene Motive hat. Sein Hauptbetreiber ist Matteo Salvini, dessen politische Karriere in der Lega Nord damit begann, dass er sich – mit seinem ursprünglichen Mentor Bossi – für die Sezession des reichen Nordens von dem „faulen“ und „parasitären“ Restitalien einsetzte (und diese Polemik dann durch seinen Kampf gegen die „Invasion der Flüchtlinge“ ergänzte, der ihm auch in Süditalien Zulauf einbrachte). Und es ist kein Zufall, dass der Autor des neuen Gesetzes, das jetzt seine parlamentarischen Hürden genommen hat, Calderoli heißt, der noch zur „alten Garde“ der Lega gehört, die dem Gedanken der Sezession nie ganz abgeschworen hat.
Bei den Vorverhandlungen über das Programm bekam die „differenzierte Autonomie“ aber auch die Zustimmung von Giorgia Meloni, der aufgrund ihrer Herkunft eher ein Gesellschaftsmodell nahe liegt, in dem autoritär „von oben“ – à la Orban, ihrem politischen Vorbild – mit möglichst wenig Zwischenebenen durchregiert wird. Da sie aber zu seiner Durchsetzung auch die Zustimmung der Lega brauchte, war das Ergebnis kein kohärentes Konzept („aus einem Guss“), sondern eine Art Deal, mit dem sie auch der Lega entgegenkommen wollte: Melonie versprach, die „differenzierte Autonomie“ in ihr Programm aufzunehmen, als Gegenleistung für die Bereitschaft Salvinis, nun auch seinerseits die Umwandlung der parlamentarischen in eine presidentielle Demokratie oder in ein „Premierat“ mitzutragen. Ein Deal, der vereint, was eigentlich unvereinbar erscheint, und über den man sich wundern mag, denn er zeigt, dass sich die Neigung zum Regionalismus durchaus mit einer autoritären Gesamtordnung vereinbaren lässt – der Regionalist Salvini verehrt auch Putin (und steht, wie man weiß, sogar auf seiner Gehaltsliste).
Prüfstein Süden
Es gibt einen Prüfstein für die Eignung des neuen Reformvorhabens, das Land insgesamt voranzubringen: die Spaltung des Landes zwischen einem Norden, der sich dynamisch entwickelt, und einem stagnierenden Süden. Es ist kein Zufall, dass die Idee der „differenzierten Autonomie“ vor allem vom Norden aus verfolgt wird: Hier drängen die Regionen nach vorn, die sich so weit wie möglich aus der Abhängigkeit von einem Gesamtstaat befreien wollen, der – so sieht es der Norden – seine bisherigen Zugriffsmöglichkeiten auf die im Norden generierten Ressourcen nutzt, um mit mit einem Teil von ihnen im Süden unproduktive Löcher zu füllen.
Das vom Parlament verabschiedete Konzept für die „differenzierte Autonomie“ stellt den Regionen 23 Bereiche zur Disposition, die in die regionale Zuständigkeit überführt werden könnten, wozu – zum Beispiel – die Bereiche Gesundheits- und Schulwesen, Sport und Umwelt, Energie und Transport, Kultur und sogar der Außenhandel gehören. Die dafür nötigen Aufwendungen werden die Regionen, die es beantragen – und das werden vor allem die reichen Regionen des Nordens sein – direkt aus ihrem eigenen Steueraufkommen bezahlen können, ohne noch den Umweg über den Gesamtstaat nehmen zu müssen. Zwar scheint der Gesetzgeber dem Alptraum, dass es dann im Norden ein Gesundheitswesen de Luxe, ein Schulwesen de Luxe usw. geben kann, dem im Süden nur noch Stagnation, Verfall und Personalnot gegenüberstehen, einen Riegel vorzuschieben, indem er für ganz Italien sog. „Leps“ („Livelli Esenziali di Prestazione“) einführen will, die garantierte Mindeststandards für alle vom Staat bzw. den Regionen zu erbringenden Leistungen festlegen. Was man auch so zusammenfassen könnte: Wo es für den Norden weitgehende Gestaltungsfreiheit gibt, gelten für den Süden, toi, toi, toi!, Mindeststandards. Ist das der Königsweg, um die Kluft zu verringern?
Verschobene Kompensationen
Zwar soll die Zulassung weiterer Regionen mit „differenzierter Autonomie“ an die vorherige Identifizierung solcher Leps gebunden sein, aber merkwürdigerweise unternimmt die Regierungsmehrheit, die das neue Gesetz im Parlament durchpeitschte, in dieser Richtung vorerst nichts. Erst in zwei Jahren, so erfährt man jetzt, seien die Gesetzesdekrete zu erwarten, welche die Leps auch finanziell unterfüttern und somit überhaupt funktionsfähig machen sollen. In ihrem Mitte Juni veröffentlichten Country Report 2024 schreibt die EU, dass „die Zuweisung von weiteren Zuständigkeiten an die italienischen Regionen Risiken für den Zusammenhalt und die öffentlichen Finanzen des Landes mit sich bringt“. Das ist, vornehm ausgedrückt, das Misstrauen, das nun auch einen wachsenden Teil der italienischen Bevölkerung erfasst hat. Die Faszination der „Frau aus dem Volke“ – ich bin eine Frau, ich bin Mutter, nennt mich Giorgia – reicht nicht mehr aus, um ihr die Gefolgschaft zu sichern.
Linke Offensive
Der Versuch der Opposition, in diesem Sommer mit dem Thema „differenzierte Autonomie“ in die Offensive zu kommen, begann vielversprechend. Nachdem es ihr gelungen war, sich in dieser Frage auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen – was in Italien keineswegs selbstverständlich ist -, begann sie ihre Kampagne mit der Sammlung der Unterschriften, die nötig sind, um ein solches Referendum überhaupt fordern zu können – laut Verfassung ist es eine halbe Million. Es begann in den Hochburgen der Opposition, den Großstädten, und im Süden, wo die neue Regierung ihren Einstand bekanntlich damit feierte, dass sie dessen wichtigste soziale Stürze, das Bürgergeld, abschaffte. Diese erste Hürde wurde mit Bravour genommen: Innerhalb nur einer Woche wurden Ende Juli an den Ständen und im Internet die halbe Million geschafft, so dass es sich die Initiatoren leisten konnten, die Aktion erst einmal fortzuführen – wohl auch wegen ihres Nebeneffekts, den Informationsstand und das Problembewusstsein zu diesem Thema zu erhöhen (laut Umfragen erklären sich zur Zeit nur 18% der Bevölkerung „angemessen informiert“).
Vielversprechend sind auch die Aussagen der Meinungsforscher über das Verhalten derer, die sich an dem Referendum beteiligen: Ihnen zufolge wird sich, wenn auch etwas abgestuft zwischen Norden, Zentrum und Süden, eine Gesamtmehrheit für die Annullierung des Gesetzes aussprechen. Die Unsicherheit steckt in einer anderen Frage: Wird das notwendige Quorum für die Gültigkeit des Referendums – es liegt bei etwa 18 Millionen – erreicht? Hier sind sich die Forschungsinstitute uneins: Während das eine Institut berichtet, die Mehrheit der von ihm Befragten erkläre, sich „mit Sicherheit“ an der Abstimmung beteiligen zu wollen, kommt ein anderes, das hier offenbar genauer nachfragte, dass dies bisher nur für ein Drittel der Befragten gelte. Zum Hauptgrund für das Scheitern des Versuchs, den Parlamentsbeschluss zur Einführung der „differenzierten Autonomie“ wieder durch eine breite Mobilisierung aufzuheben, könnte also nicht daran scheitern, dass eine Mehrheit der Wahlberechtigten für seine Beibehaltung ist, sondern weil auch in Italien immer mehr Menschen auf die Wahrnehmung ihrer demokratischen Rechte verzichten.
Das in dem Reformjahr 1970 in die italienische Verfassung (Art. 75) aufgenommene Recht, „von unten“ her ein vom Parlament beschlossenes Gesetz wieder aufzuheben, könnte so um seinen Zweck – mehr Partizipation – gebracht werden. Es wäre eine weitere Niederlage für die Demokratie.
Aber so weit ist es noch nicht.