„Eppur si muove – Und sie bewegt sich doch“
Die politische Lage in Italien ist in Bewegung geraten. Schon während des Europa-Wahlkampfes und erst recht nach der Wahl befindet sich die Rechtsregierung in einer schwierigen Lage, sowohl wegen der Spannungen innerhalb ihres Rechtsbündnisses und ihres zunehmend problematischen Verhältnisses zur EU als auch angesichts des wachsenden Drucks der Opposition.
Zum Zustand der Koalition sind die Mantren der drei regierenden Parteien – Fratelli d’Italia, Forza Italia und Lega – gleich geblieben: Alles in Butter, prächtige Zusammenarbeit, nur ein paar unterschiedliche Akzente bei einigen Themen, die den vertrauensvollen Zusammenhalt in keiner Weise beeinträchtigen. Eine Inszenierung inexistenter Harmonie, die inzwischen groteske Züge annimmt und an die keiner glaubt, weder die Akteure selbst noch erst recht die Kritiker. Ob es um die geplanten Regierungsreformen geht oder um die Fragen der europäischen Zusammenarbeit und der internationalen Politik (s. Russlands Krieg gegen die Ukraine, Haltung zu Trump): die Zerrissenheit zwischen den Koalitionären ist evident und alles andere als nebensächlich.
Während die Fragilität der rechtsextremen Koalition zunimmt, befinden sich die Oppositionsparteien auf dem Weg der wechselseitigen Annäherung und der Suche nach Konvergenzpunkten, die sich nicht nur gegen die Regierungspolitik richten, sondern auch auf die Entwicklung einer gemeinsamen, progressiven Alternative zielen. Dieser Prozess befindet sich in den Anfängen; noch ist nicht absehbar, wie konsistent bzw. erfolgreich er sein wird.
Der ehemalige Chefredakteur der „Repubblica“ Ezio Mauro, der dort weiterhin Kommentare schreibt, hat sich in dem nachfolgenden Artikel „Die Pflichten der Linken“, den wir in deutscher Übersetzung bringen, mit dieser Entwicklung befasst. Seine Einschätzung der Lage, insbesondere was die Schwächung der Rechtsextremen auf europäischer Ebene angeht und die sich daraus ergebende Perspektive für eine „linke Offensive“, ist aus unserer Sicht recht optimistisch. Doch hebt seine Analyse eine reale, wichtige Verschiebung der politischen Kräfte hervor. Und ist gleichzeitig eine Aufforderung an die Linke, ihrer politischen Verantwortung gerecht zu werden. „Eppur si muove – Und sie bewegt sich doch“.
Die Pflichten der Linken, von Ezio Mauro
Und sie bewegt sich doch. Es sollte das goldene Jahr von Giorgia Meloni werden, die sich nach ihrem Wahlsieg sicher war, mit Hilfe der angekündigten Welle der europäischen Rechten auch die Gleichgewichte in Brüssel und Straßburg durcheinander zu bringen. Stattdessen hat die Linke wieder das Feld betreten, indem sie gegenseitige Vetos, Eifersüchteleien, Ausschlüsse und Ideologien beiseite schob, um das Land dem Zugriff des nationalistischen Souveränismus zu entziehen, der es mit dem neuen und rebellischen Angebot einer Regierung „gegen das System“ verführt hatte. Heute zeigt sich, dass dieses Angebot nur im Dunkel unserer heimischen Ängste einen Raum finden, sich aber auf europäischer Ebene nicht etablieren konnte. Und nicht nur das: Die EU-Regierung entsteht aus der Allianz traditioneller Kräfte, die sich im Rechtsstaat, den Werten der liberalen Demokratie und der historischen und politischen Kultur des Westens wiederfindet und die extrem antieuropäische, russophile, illiberale, reaktionäre und autoritäre Rechte an den Rand drängt.
Die imaginäre und persönliche Geographie der italienischen Ministerpräsidentin löst sich beim Faktencheck auf: Das Zentrum Europas bleibt in Brüssel und verschiebt sich nicht nach Visegrad, auch wenn Italiens Rechte nun nicht mehr weiß, wo sie sich auf der Landkarte positionieren soll.
Zum Glück bleibt Europa eine gemeinschaftliche Konstruktion, die auf einem gemeinsamen Verständnis von Demokratie basiert, das nach dem Krieg zurückerobert und durch die Niederlage der beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts wieder bestätigt wurde. Und die Rechte entdeckt nun, dass man in diesem Europa nicht halb schwanger sein kann.
Die Lage in Italien ändert sich also und mit ihr der Zeitgeist. Aber diesmal hat die Linke – erstmals nach vielen Jahren – wieder die Initiative ergriffen. Und zwar nicht nur auf Grund der Fehler und personellen Unzulänglichkeiten der Regierungsmannschaft und der Grenzen einer politischen Kultur, die einen modernen kontinentalen Konservatismus verkörpern möchte, dann aber doch nur dem primitiven Ruf des Waldes folgt. Und dabei das große europäische Spiel aus Angst opfert, im kleinen italienischen Spiel dem Bündnispartner und Rivalen Salvini eine offene Flanke zu bieten. Aufseiten der Linken gibt es klare Anzeichen für eine andere Zukunftswahrnehmung, die eine neue politische, strategische und vor allem kulturelle Fragilität der regierenden Rechten offenbart. Anzeichen, welche die konkrete Möglichkeit erkennen lassen, die Herausforderung von Wahlen anzunehmen und sie auch zu gewinnen – heute in den Gemeinden und Regionen, morgen für das nationale Parlament und die Regierung.
Die Gesellschaft entdeckt die Schwächen des gegenwärtigen Systems – von der inzwischen unübersehbaren Krise des Gesundheitswesens, das nicht in der Lage ist, den Bedürfnissen der Bürger zu entsprechen und deren Grundrechte verletzt, bis zum Wassernotstand, die in den Abgrund eines rückständigen Landes blicken lassen, in den das Welfare-System nach jahrelanger Vernachlässigung öffentlicher Präventionsmaßnahmen gestürzt ist.
Hier zeigen inzwischen auch die soziale Präsenz der Linken und ihre Bemühung, mit den Bürgern in einen Dialog einzutreten und sie bei entscheidenden Fragen zur Mobilisierung aufzurufen, eine neue Fähigkeit, Bedürfnisse und Bürgerrechte zu vertreten und auf sie mit unmittelbar positiven Antworten zu reagieren. Wie die 100.000 Unterschriften belegen, die bei der Online-Abstimmung für das Referendum zur Abschaffung des Gesetzes über die erweiterte Regionalautonomie belegen, die in weniger als zwei Tagen gesammelt wurden. (Inzwischen ist die Zahl der – an den Ständen und online gesammelten – Unterschriften auf über 500.000 gestiegen, womit das Quorum zur Durchführung des Referendums schon jetzt erreicht ist, Anm. Red.).
Natürlich ist der Weg noch lang, wobei Meloni auf ihre persönliche Zustimmungswerte setzt, mit denen sie die internen Spannungen in der Regierungsmehrheit kompensieren kann. Doch der Dialog zwischen Schlein und Conte und der politische Kontakt zwischen der PD-Generalsekretärin und Renzi bestätigen, dass man möglicherweise aus der französischen Lehre der Neuen Volksfront gelernt hat – wenn sie im noch zu bildenden Bündnis nicht nur die Rolle künftiger Saboteure übernehmen wollen. Diese war in der Lage (zumindest vorerst, Anm. Red.), Le Pen zu stoppen und könnte jetzt helfen, die italienische Verdammnis zu ewigen Spaltungen im linken Lager zu beenden, bei denen allzu oft der eigene Nachbar oder gar Gefährte der Hauptgegner zu sein schien.
In der Politik ist es oft die Gelegenheit, welche die Entscheidung diktiert. Aber heute sehen wir ein neues Element, das lange fehlte: das Bewusstsein, dass Mittelinks ein konstantes und grundlegendes politisches Subjekt im Leben des Landes ist, das eine Kultur des Fortschritts, der Emanzipation und wachsender sozialer Gerechtigkeit verkörpert – und gerade deswegen in der Lage ist, an den Rand und ins Abseits gedrängte Bürger zu schützen, indem es Inklusion fördert und die Sicherheit aller garantiert. Eine europäische Kultur, die Italien in der historischen Gruppe der EU-Gründerstaaten verankert und die Missverständnisse einer Ministerpräsidentin beseitigt, die zwar in Bezug auf die Ukraine glücklicherweise die atlantische Position vertritt, aber gleichzeitig nie die Prinzipien liberaler Demokratie anerkannt hat. Als ob der Westen eine Kaserne wäre und nicht eine Gemeinschaft, die von den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit lebt, und für die die Nato ein Instrument ist und keine identitäre Chiffre.
Von Mittelinks erfordert dieses Selbstbewusstsein die Erfüllung von Pflichten, die sich in der Verantwortung für die Verteidigung der republikanischen und verfassungsrechtlichen Grundsätze zusammenfassen lassen. Eigentlich versteht man nicht, warum das Mittelinks-Lager – angesichts einer extremen Rechten, die ihr neofaschistische Erbe nie ablegte und auf Distanz zu Europa ging – so viel Zeit brauchte, um eine glaubhafte Alternative schaffen.
Wehe, wenn jetzt die Gelegenheit verpasst wird, die erste nationale Kraft zu werden, welche sich von ihren eigenen Fehlern und Verspätungen befreit. die liberale Demokratie verteidigt und einen neuen Wertehorizont schafft, in den die gesamte Geschichte der italienischen Linken mündet.