Die Wahlen in Thüringen und Sachsen aus Sicht eines italienischen Journalisten

Der Journalist Claudio Tito ist ein kluger Beobachter der italienischen Politik und, als Brüssel-Korrespondent der Tageszeitung „La Repubblica“, auch der europäischen Politik. In dem folgenden von uns übersetzten Artikel kommentiert er die Auswirkungen der Wahlen in Thüringen und Sachsen nicht nur auf Italien, sondern auf Europa insgesamt. Im Fokus hat er dabei das Verhältnis der beiden Wahlsieger – AfD und Bund Sahra Wagenknecht – zu dem russischen Herrscher und dessen Auswirkungen auf die Europäische Union. Eine geopolitische und strategische Frage, die für die Entwicklungen in den kommenden Jahren entscheidend sein wird.

In seinem Artikel zeigt sich Tito geradezu entsetzt über die möglichen Perspektiven, die nun auf Europa zukommen. Er unterstreicht dabei besonders die Gefahren, die eine Schwächung „der deutschen Lokomotive“ und gleichzeitig auch der deutsch-französischen Achse bewirken. Deren Auswirkungen werden für Europa „verheerend“ sein, so Titos Einschätzung, und zwar nicht allein in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern für die demokratische Stabilität auf europäischer Ebene insgesamt. Eine emotional und zugespitzt formulierte Bewertung, die jedenfalls deutlich macht, wie aufmerksam das Geschehen in Deutschlands auch außerhalb deren Grenzen – in diesem Fall in Italien – verfolgt wird, und gleichzeitig die Frage aufwirft, ob sich die deutsche Politik eigentlich immer der Verantwortung bewusst ist, die sie auch für Europa trägt.

Auf einen Aspekt der jüngsten deutschen Wahlergebnisse, der für den Erfolg der AfD und des BSW ausschlaggebend war und europapolitisch genauso entscheidend ist – das Migrations- und Flüchtlingsthema – geht Tito in seinem Artikel nicht ein, da er sich auf die geopolitische und internationale Dimension konzentriert. Er soll aber hier angesprochen werden, weil sich gerade bei dieser Frage zeigt, wie fatal die Reaktion der Parteien des demokratischen Spektrums ist.

Laut den Umfragen war die innere Sicherheit bei den Wahlen in Sachsen und Thüringen ein zentrales Thema. Dabei ging es nicht nur um islamistischen Terror und Ablehnung von Zuwanderung, sondern genauso um Unzufriedenheit über soziale und wirtschaftliche Entwicklungen. Letztere spielten für die AfD und den BSW kaum eine Rolle, die Bekämpfung der „illegalen Migration“ war deren dominante Thema und wurde von ihnen ebenso pauschal wie unzutreffend als Ursache aller Probleme identifiziert.

Das ist, in Deutschland wie in anderen Ländern, von den populistischen Parteien nicht anders zu erwarten. Fatal ist aber, dass nun auch alle Parteien des demokratischen Spektrums auf ihre Niederlage damit reagieren, dass sie die Narrative der Rechts- und (vermeintlich) „linken“ Populisten übernehmen. Von der CDU/CSU bis zur Ampel und gar bis zum Bundespräsidenten findet ein Überbietungswettbewerb statt, wie man mit allen Mitteln – egal ob sie nationalem und internationalem Recht widersprechen und ob sie überhaupt umsetzbar sind – Zuwanderung und Flucht verhindern kann, am besten gleich direkt an der Grenze. Noch fataler: Die effektive und dringend notwendige Bekämpfung des islamistischen Terrors wird pauschal mit dem Migrationsthema in Verbindung gebracht.

Eigentlich müsste es demokratischen Parteien darum gehen, für die innere, soziale und wirtschaftliche Sicherheit aller Bürger – unabhängig von Herkunft, Religion und Hautfarbe (s. Grundgesetz) – zu sorgen. Mit effizienter und besserer Ausstattung für Polizei und Gewaltprävention, Ausbau der öffentlichen Infrastrukturen – gerade auch auf dem Land –, Förderung von Beschäftigung und Bildung, bezahlbare Wohnungen – um nur einige zu nennen.

Denn nicht nur die Meinungsforscher und Experten, sondern auch die Geschichte zeigen: die Übernahme menschenrechts- und fremdenfeindlicher Positionen schwächt nicht die Rechtsextremen und Populisten, sondern stärkt sie, nach dem Motto „Das Original ist immer attraktiver als die Kopie“. Damit wird die Spaltung der Gesellschaft vertieft, die Demokratie geschwächt und die demokratischen Parteien selbst in ihrer Existenz bedroht.

Im Folgenden nun den Artikel von Claudio Tito (La Repubblica, 2. 9. 2024)

Putins Vorposten in Europa

‚Die zweite Hälfte dieses Jahrzehnts wird sehr schwierig werden. Der Verteidigungsbereich darf nicht sekundär sein‘. Die Wahlurnen in Thüringen und Sachsen waren noch geöffnet, als die Vorsitzende der EU-Kommission Ursula von der Leyen in Prag diesen Satz sprach. Der Kern dieser Worte steht in engem Zusammenhang mit den Geschehnissen in den beiden deutschen Bundesländern, in denen die neonazistische Rechte einen noch nie dagewesenen Sieg errungen hat. Und wo zur gleichen Zeit die populistische und putinhörige Linke vom Bund Sahra Wagenknecht einen Sprung nach vorn gemacht hat, mit einem Ergebnis, das doppelt so hoch ist wie das der regierenden Sozialdemokraten.

Der alte Kontinent muss sich also – während er sich auf dem schmalen Grat zwischen einem potentiellen Krieg und einem Infarkt der Demokratie bewegt – mit einem inneren Feind auseinandersetzen. Die institutionellen Systeme in Europa sind infiltriert.

In Italien, in Frankreich und nun – noch eklatanter – in Deutschland. Der Samen des Putinismus wächst auch in Ländern, die über eine bewährte und solide demokratische Tradition verfügen. Das, was in den beiden deutschen Ländern geschah, ist dafür der letzte Beweis.

Der Ras im Kreml hat jetzt also seine Fürsprecher im Herzen Europas. Der russische Präsident hat dort einen hohen und besorgniserregenden Sieg eingefahren. Die faschistische Rechte der AfD und die nostalgische Linke sind, ähnlich wie das Rassemblement National in Frankreich und die Lega in Italien, Putins Vorposten in der EU. Die Verweigerung von Verantwortung gegenüber der Ukraine wird verborgen hinter einem vorgespielten Streben nach Frieden. Die Front, die gestern (1. September, Anm. Red.) in Deutschland gewonnen hat, ist exakt der Archetyp des gleichen degenerativen Modells in der italienischen Politik: die europäische Demokratie soll der autokratischen Arroganz von Moskau geopfert werden, und als Rechtfertigung wird die vermeintliche Befriedung der ukrainischen Gebiete vorgeschoben.

Den Wählern gegenüber verschleiert man, dass diese Haltung nicht wirklich pazifistisch ist, sondern es sich dabei um eine Kapitulation vor Gewalt und Diktatur handelt.

Für Putin ein phänomenales Ergebnis. Das es ihm, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern, erlaubt, in die Grenzen Europas einzudringen. Und es ist kein Zufall, dass die einzige italienische Partei, die darüber jubelt, die Lega von Matteo Salvini ist.

Der gravierendste Aspekt aber ist genau der, auf den sich die EU-Kommissionspräsidentin bezog. Die nächsten Jahre werden sehr schwierig sein. Der Kriegshorizont war noch nie so nah. Von der Leyen selbst hat die Einführung eines ‚Kommissars für die Verteidigung‘ angekündigt. Europa muss sich auf diese Herausforderung vorbereiten, während es in seinem Inneren Akteure gibt, die das Spiel des Gegners mitspielen.

Dieser Schwächezustand könnte in den nächsten Monaten weiter zunehmen. Unabhängig davon, ob er zurücktritt oder nicht, ist Kanzler Scholz inzwischen eine ‚lahme Ente‘. Die deutsche Lokomotive wird sich, mindestens ein Jahr lang bis zu den Bundestagswahlen, nur mit angelegter Handbremse bewegen. Die Auswirkung auf die Union und auf die Mannschaft von Ursula von der Leyen, die gerade startet, wird verheerend sein. Ohne den aktiven Beitrag der deutschen Exekutive werden die europäischen Institutionen verstümmelt sein. Wenn man die Fragilität der französischen Präsidentschaft und die antieuropäischen – offenen oder verdeckten – Ambivalenzen der italienischen Rechten hinzuzählt, scheint es schwer zu sein, dass die neue Kommission die von Von der Leyen eingegangenen Verpflichtungen erfüllt.

Die EU läuft Gefahr, ihre künftige Horizontlinien mit einem gebrochenem Bleistift zu zeichnen. Diese Legislaturperiode sollte eigentlich die der Reformen und der institutionellen Anpassung an den globalen Wettbewerb sein. Doch unter den gegebenen Bedingungen ist es viel wahrscheinlicher, dass mindestens ein Jahr lang alles im Treibsand der Lähmung versinkt. Kann sich die EU das erlauben? Nein. Weder aus der Sicht der demokratischen Stabilität noch der Wirtschaft.

Es ist also – angesichts eines politischen Systems, das auch in Frankreich und Deutschland dabei ist, die schlimmsten Gewohnheiten und Zersplitterungen der italienischen Parteien zu übernehmen – unbedingt notwendig, dass man in den Hauptstädten unseres Kontinents und auch in Brüssel zu begreifen beginnt, dass das erste gemeinsame Ziel der Schutz der Demokratie sein muss. Das Konzept der ‚Großen Allianz‘ ist nicht mehr nur ein Fallschirm, den man je nach Bedarf in einzelnen Mitgliedsstaaten öffnen kann. Er muss vielmehr der erste Punkt eines Programms der ganzen Union und der Kommission werden. Wenn man an unserer Freiheitsgeschichte festhalten will.“

6 Kommentare

  • Anne-Margarete Runge

    stimmt mein Eindruck, dass Sie die Zeitung „La Repubblica“ bevorzugt auswerten und wenn ja, ist das nicht etwas einseitig?

  • Liebe Frau Runge,
    wir nutzen bei unseren Recherchen verschiedene Informationsquellen, Zeitungen und andere Medien (u. a. Internetportale), soweit wir Zugang dazu haben, und versuchen dann, in unseren Beiträgen eigene Bewertungen und Einschätzungen darzulegen. Ohne den Anspruch, die Vielfalt dieser Informationen zu erfassen.
    Manchmal veröffentlichen wir in deutscher Übersetzung Artikel, meist aus „La Repubblica“, wie Sie richtig anmerken. Ihre Nachfrage ist aus zwei Gründen nicht unberechtigt: 1) dort verfolgen wir regelmäßig die Beiträge einiger Autoren, die wir besonders schätzen. Claudio Tito gehört dazu, sowie auch u. a. Ezio Mauro, Massimo Giannini, Tito Boeri, Francesco Bei. 2) Die linksliberale Zeitung „La Repubblica“ gehört – mit „Corriere delle Sera“ und „La Stampa“ – zu den wichtigsten Zeitungen Italiens und gleichzeitig zu den dort von der Rechten (schon seit Berlusconis Zeiten) am heftigsten bekämpften Pressestimmen. Diesen Stimmen möchten wir in unserem Blog Raum geben, auch wenn wir nicht immer in allen Punkten mit ihnen einer Meinung sind. Zum Beispiel der von uns hier übersetzte Artikel von Claudio Tito: Wir halten ihn für unsere Leserinnen und Leser auch deshalb für interessant, weil er ziemlich ungefiltert das Entsetzen zumindest eines Teils des italienischen Mittelinks-Spektrums über die deutsche Entwicklung zum Ausdruck bringt – und damit ein Stück europäisches Bewusstsein dokumentiert, dessen Existenz in Deutschland oft unterschätzt wird. Und weil er zweitens die befürchtete Auswirkung dieser Wahlen nicht nur auf Deutschland und vielleicht auch auf Italien thematisiert, sondern auf Europa insgesamt, was aus unserer Sicht nötig ist. Dass wir trotzdem auch in Titos Artikel nicht der Weisheit letzten Schluss sehen, haben wir – denken wir – in unserer Vorbemerkung zum Ausdruck gebracht.
    Marcella und Hartwig Heine

  • Christa Kernberger

    Ich würde dem Herrn von La Repubblica, und nicht nur ihm, empfehlen, sich den auf Deutsch gehaltenen Vortrag von Frau Krone-Schmalz an der Universität von Granada übersetzen zu lassen.
    Hier der LInk dazu: https://youtu.be/PsLtDkwdhxA?si=aDEUv2yA0vymZPp7

  • Robert Ammann

    Hallo Frau Runge und liebe Heines,
    wir sind deutsche Expats in Norditalien, die sich um Integration sprachlich und auch gesellschaftlich sehr bemühen, (wir werden z.B. auch gefragt, auf Dorffesten mit zu helfen, tun dies auch gern und das wird auch anerkannt ). Wir beobachten durchaus aktiv die politische Entwicklung in Italien, haben auch neben einer Loklazeitung ein Abo bei der Stampa und auch der Repubblica. Da wir aber auch weiterhin in einem deutschem Domizil nicht nur steuerlich verankert sind und auch wegen unserer Kinder, die in den neuen Bundesländern wohnhaft sind , gilt unser Interesse weiterhin sehr stark vor allem der deutschen Entwicklung, was uns trotz recht guter italienischer Sprachfertigkeiten letztlich doch viel leichter fällt zu verfolgen. Wir sind daher dem Ehepaar Heine zu großem Dank verpflichtet, dass sie Deutschen mit Interesse an Italien wie uns eine tiefere Einsicht in die kritische Sicht aus italienischen journalistischen Quellen auf politische Entwicklungen ermöglicht, als die wir üblicherweise mitbekommen, und die schwerlich mit dem europäischen Gemeinschaftsgedanken in Einklang zu bringen sind. Bedauernswerterweise nehmen ja die nationalistischen Tendenzen europaweit zu. Leider begeben sich nun gerade in Deutschland die Parteien der Mitte auf den gefährlichen Weg der Übernahme der Positionen der Antiimmigrationshetzer. Wie gut wäre es daher, wenn es nur eine klarere Differenzierung zwischen der Bekämpfung des radikalen Islamismus und den unbestrittenen Problemen der Bewältigung der Immigration insgesamt geben würde , so wie Marcella und Hartwig Heine es im Vorspann formulieren: „Die effektive und dringend notwendige Bekämpfung des islamistischen Terrors wird pauschal mit dem Migrationsthema in Verbindung gebracht. Aber leider hat ja die FDP ihre ehemals durchaus stark ausgeprägte sozialliberale Seite vollkommen beerdigt und schürt obendrein noch das Grünenbashing, die nun bei dem Thema völlig alleine dastehen, da die SPD aufgrund der Wahlergebnisse um zu retten was zu retten ist offenbar zu allem bereit ist, Hauptsache weiter an der Regierung beteiligt sein, erstes Beispiel Hessen, jetzt Sachsen und Thüringen.
    Ja es kommen schwierige Zeiten auf uns zu.

  • Anne-Margarete Runge

    Liebe Herr und Frau Heine und Herr Ammann,
    da wir m.E. in Deutschland gerade eine veritable Demokratiekrise erleben, bin ich sehr sensibel gegenüber dem Journalismus ganz allgemein, der ja in Demokratien eine ganz große Verantwortung hat. Ich danke Ihnen daher sehr für Ihre Ausführungen, die mich fürs Erste beruhigt haben. Allerdings sei auch angemerkt, dass die geschätzte Petra Reski „La Repubblica“ als neoliberale Zeitung eingeordnet. Was nun Deutschland betrifft, möchte ich Herrn Ammann nur insoweit ergänzen, als ich unseren verkrusteten Altparteien (die „Grünen“ eingeschlossen) eine erhebliche Mitschuld an dem Rechtsruck gebe durch ihre seit vielen Jahren wenig überzeugende politische Arbeit .
    Ja, die Zeiten werden schwierig in Europa und Deutschland.

  • Liebe Frau Runge,

    die Einordnung von Petra Reski von „La Repubblica“ als „neoliberal“ teilen wir nicht. Wir sind zwar nicht mit allen Beiträgen und Einschätzungen, die dort veröffentlicht werden, einverstanden und sehen die oft redundante bzw. ausufernde Art der Berichterstattung kritisch (seitenweise Artikel zu einem einzigen Thema, die sich in zig Details verzetteln, davon einige unerheblich oder rein spekulativ). Aber die Definition „neoliberal“ trifft nach unserer Meinung nicht zu.

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