Prozess „Open-Arms“: Staatsanwaltschaft fordert sechs Jahre Haft für Salvini
„Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten für die Straftaten Freiheitsberaubung und Verweigerung von amtlichen Handlungen ist erwiesen. Minister Salvini war verpflichtet, dem Schiff, das die Migranten gerettet hatte, ohne jegliche Verzögerung einen sicheren Hafen zur Verfügung zu stellen“. So die Staatsanwälte von Palermo, die am 14. September im sogenannten „Open Arms-Prozess“ für Matteo Salvini eine Verurteilung zu sechs Jahren Haft beantragt haben.
Die Vorgeschichte
Im August 2019, als die Koalition von Lega und 5-Sternebewegung noch im Amt und Lega-Chef Salvini Innenminister war, hatte das spanische NGO-Schiff Open Arms in drei Einsätzen 147 Menschen vor dem Ertrinken gerettet, darunter Frauen und viele Minderjährige.
Wie vom internationalen Seerecht vorgesehen, beantragte die Open Arms die schnellstmögliche Zuweisung eines sicheren Hafens, doch Innenminister Salvini verweigerte seine Zustimmung und ließ 19 Tage lang das Schiff auf hoher See verharren. Die Situation der ohnehin erschöpften und traumatisierten Migranten geriet außer Kontrolle, wie Ärzte und Psychologen, die auf das Schiff kommen durften, berichteten: es gab Selbstmordversuche, einige stürzten sich ins Meer in der verzweifelten Hoffnung, schwimmend das Land zu erreichen, Wut und Panik machten sich breit.
Daraufhin ordnete der Staatsanwalt von Agrigento di Beschlagnahme des Schiffs und die sofortige Anlandung in Lampedusas Hafen an.
Im Januar 2020 – da war inzwischen die „Conte2“-Regierung aus 5Sternen und PD im Amt – beantragte das „Ministergericht“ von Palermo (zuständig für Straftaten von Regierungsmitgliedern) beim Senat, die Immunität Salvinis, mittlerweile wieder im Rang eines Senators, aufzuheben und die Eröffnung eines Verfahrens gegen ihn wegen Freiheitsberaubung und Verweigerung von Amtshandlungen im „Fall Open Arms“ zu autorisieren. Der Senat stimmte mehrheitlich dafür.
Nach den Einlassungen der Staatsanwaltschaft von Palermo und deren Antrag auf eine Haftstrafe von sechs Jahren wird am 18. Oktober die Verteidigung ihr Plädoyer halten. Das Gerichtsurteil wird gegen Ende des Jahres erwartet. Verteidigerin von Salvini ist die bekannte Rechtsanwältin Giulia Bongiorno (früher Forza Italia, dann Fratelli d’ Italien, jetzt Lega), die während des Open Arms-Falls Ministerin der „Conte 1-Regierung“ war und jetzt Senatorin für die Lega ist.
Die Verteidigung behauptet, Salvinis Entscheidung, dem Schiff die Anlandung zu verweigern, sei ein Teil der Regierungsstrategie zum Schutz der nationalen Grenzen vor „illegalen“ Migranten bzw. Flüchtlingen gewesen. Dem widerspricht der ehemalige Ministerpräsident Conte: Die Blockade des Schiffs sei auf eine persönliche Initiative Salvinis zurückzuführen und keine gemeinsame Entscheidung seiner Regierung. Zutreffend ist allerdings, dass der damalige Verkehrsminister Toninelli (5Sterne) und die damalige Verteidigungsministerin Trenta (ebenfalls 5Sterne) Salvinis Verbot für die Open Arms, in italienische Gewässer zu fahren, mitunterzeichnet hatten.
„Ich bekenne mich schuldig, Italien und die Italiener verteidigt zu haben“
Die Reaktion des Lega-Chefs (der in Melonis Regierung Verkehrsminister und Vizepremier ist) auf die Forderung der Staatsanwaltschaft kam prompt. In einem Video, der im öffentlichen Fernsehen (Rai1, sprich „Telemeloni“) kommentarlos ausgestrahlt wurde, bekannte er sich „schuldig, Italien und die Italiener verteidigt zu haben“. Das sei geschehen, wie von Art. 5 der Verfassung gefordert: „Die Verteidigung des Vaterlandes ist heilige Pflicht jedes Bürgers“. Dass der unmittelbar nachfolgende Satz des Artikels heißt: „Der Militärdienst ist im Rahmen der gesetzlich festgelegten Grenzen und Modalitäten verpflichtend“ und somit ganz klar ist, dass es in diesem Artikel um militärische Verteidigung im Fall eines bewaffneten Überfalls bzw. Aggressionskrieges geht – und nicht um die Abwehr von Migranten und Flüchtlingen – verschweigt Salvini.
Und legt nach: „Im Parlament hat die Linke entschieden, dass die Verteidigung der italienischen Grenzen eine Straftat ist“. Eine Lüge. Denn der Senatsbeschluss, auf den er sich bezieht, betrifft nicht die Frage, ob im Fall Open Arms Salvinis Handlungen eine Straftat sind oder nicht – dass können und müssen nur die Gerichte entscheiden -, sondern die Frage, ob seine parlamentarische Immunität aufgehoben werden darf, damit überhaupt ein Verfahren gegen ihn eröffnet werden konnte. Salvini stellt bewusst eine rechtmäßige Entscheidung des Senats als politischen Willkürakt dar. Und will seine Verweigerung, schiffbrüchigen Frauen, Männern und Kindern – entgegen allen nationalen und internationalen Normen der Seenotrettung – den Zugang zum nächstliegenden sicheren Hafen zur Verfügung zu stellen, als heroischen Akt der Vaterlandsverteidigung gegen feindliche Invasoren verkaufen.
Die Staatsanwälte von Palermo haben bei der Begründung ihres Strafantrages dargelegt, worum es im Open Arms-Prozeß tatsächlich geht: Um die Wahrung fundamentaler Menschenrechte wie das Recht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit, welche für alle zu gelten haben, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Rechtsstatus, ja sogar auch für Straftäter. „Die Pflicht zur Seenotrettung besteht seit Jahrtausenden, wie wir aus der Odyssee wissen. Sogar im Krieg gilt diese Pflicht, sie ist universell“, so die Staatsanwaltschaft. Gegen diese universellen Grundrechte habe der Angeklagte verstoßen, indem er für die Dauer von 19 Tagen rechtswidrig die Festsetzung der aus Seenot Geretteten auf dem Schiff anordnete.
Dass Matteo Salvini auf die Menschenrechte pfeift und einmal mehr versucht, aus dem Schüren von Fremdenhass und der Kriminalisierung von Flüchtlingen und Migranten politischen Gewinn zu ziehen, ist nichts Neues und seine groteske „Verteidigungsrede“ insofern nicht überraschend.
Regierung greift Staatsanwaltschaft an
Noch gravierender ist, dass höchste staatliche Stellen – in Gestalt von Ministerpräsidentin Meloni, Senatspräsident La Russa und Außenminister und Vizepremier Tajani – mit großer Empörung auf die Forderung der Staatsanwaltschaft reagieren, „totale Solidarität“ mit Salvini verkünden und dessen Rechtfertigung (Verteidigung des heiligen Vaterlandes) übernehmen. „Es ist unglaublich, dass ein Minister der italienischen Republik sechs Jahre Haft riskiert, weil er seine Arbeitspflicht erfüllt und die nationalen Grenzen verteidigt hat, entsprechend dem Mandat, das er von den Bürgern erhalten hat. Die Pflicht zum Schutz der italienischen Grenze vor illegaler Migration in ein Verbrechen zu verwandeln, ist ein extrem schwerwiegender Präzedenzfall. Meine totale Solidarität gilt Salvini“, lautet Melonis im Netz verbreitete Stellungnahme. Senatspräsident La Russa warf den Staatsanwälten vor, „die Gesetze korrigieren zu wollen“ und Tajani erklärte: „Salvini hat seine Pflicht als Minister erfüllt, um die Legalität und die nationalen Grenzen zu verteidigen. Dafür sechs Jahre Haft zu fordern scheint mir unvernünftig und dazu noch bar jeglicher rechtlichen Grundlage“
Diese Äußerungen sind auch deswegen gravierend, weil sich damit hohe institutionelle Vertreter in einen laufenden Prozess einmischen, in dem noch kein Urteil gesprochen wurde. Mit öffentlichen Erklärungen und dem ganzen Gewicht ihrer Ämter übernehmen sie voll und ganz die Position des Angeklagten, attackieren in aggressiver Weise die Staatsanwaltschaft und üben Druck auf die Richter aus, ja nicht dem Antrag der Staatsanwälte zu folgen. Ein klarer Verstoß gegen einen Grundpfeiler des Rechtsstaates, der in der italienischen Verfassung verankert ist: die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz. Ein Verstoß, der in autokratischen Regimes und „illiberalen Demokratien“ à la Orbán die Regel ist – und den auch Italien aus der unrühmlichen Berlusconi-Ära nur zu gut kennt.
Es ist gewiss kein Zufall, dass nach diesen Stellungnahmen von Meloni & Co. die sogenannten „social media“ von tausenden Beleidigungen und Drohungen gegen die drei Staatsanwälte Marzia Sabella, Geri Ferrara und Giorgia Righi überflutet wurden. Die „Associazione Nazionale Magistrati/ANM“ (Nationalbund der Richter und Staatsanwälte) hat dagegen öffentlich protestiert und sieht darin auch eine persönliche Gefährdung für die Betroffenen. Sie kritisierte die Einmischungsversuche von Regierungsseite scharf: Sie würden die Staatsanwaltschaft delegitimieren und Druck auf die Richter ausüben, die ein Urteil zu fällen haben. „Es ist das Gericht, das unabhängig und neutral zu entscheiden hat, ob die Anklage begründet ist, in gewissenhafter Berücksichtigung aller gesetzlicher Bestimmungen“ heißt in der Erklärung der ANM. Und fügt hinzu: „Die völlige Gleichheit aller vor dem Gesetz ist die Quintessenz der Demokratie, sie ist unabhängig von Ämtern und politischer Positionen und der Prozess, der gerade in Palermo stattfindet, ist selbst ein fundamentaler Ausdruck von Demokratie“. Ähnlich reagierten auch Vertreterinnen und Vertreter aller Oppositionsparteien
Anmerkung zum Schluss
Was sich im Fall Open-Arms abspielt, insbesondere Salvinis Verteidigungslinie, er habe in Erfüllung seiner Amtspflicht gehandelt, die nationalen Grenzen vor illegaler Migration mit allen Mitteln zu schützen, dürfte auch deutsche Ohren klingeln lassen. Die Parallelen zur gegenwärtigen Situation in Deutschland sind unübersehbar: nicht nur bei der AfD und dem BSW, sondern auch in den Forderungen von Merz und Söder, alle „illegalen Migranten“ sofort an den deutschen Grenzen zurückzuweisen – unabhängig davon, ob sie einen Asylgesuch anstreben, der nach geltendem Recht zu prüfen ist. Etwas verklausulierter – zumindest bis jetzt, das kann sich noch ändern – versucht die Ampelregierung das gleiche Ziel zu erreichen, ohne allzu brachial das Recht zu brechen: mit Kontrollen an allen Landesgrenzen und mit drastischen Maßnahmen, die nicht nur Straftäter oder Personen unter Terrorismusverdacht betreffen, wie der Streichung aller Leistungen für sogenannte „Dublin-Flüchtlinge“ (die nach Meinung von Experten sehr wohl rechtswidrig ist). Die Priorisierung der Menschenrechte gerät überall unter zunehmenden Druck.
Ein Trend, der sich auch in anderen europäischen Ländern – u. a. den Niederlanden, Dänemark, Frankreich, Österreich – stetig verstärkt. Wir sind noch nicht an seinem Ende angekommen. Die vereinigten Rechtsextremen, Nationalisten und Fremdenhasser wird es freuen. Für die Werte-Gemeinschaft Europa wird es ein Desaster sein.
Erschreckende Darstellung eines juristischen Verfahrens und der Hintergründe – vor allem der Verweis auf die Parallelen bzw. den Trend in Deutschland. Die Frage ist, wie sich die Zivilgesellschaft dagegen positionieren kann.
Es sind „Allmählichkeitsschäden der Demokratie“, wie von Steffen Mau anschaulich dargestellt in seinem Buch „Ungleich vereint“.