Auf halbem Weg
Es war das letzte diesjährige Fest der „Unità“, das Ende August in Reggio Emilia stattfand, wo Elly Schlein den Satz aussprach, der seitdem wie ein Kompass über ihrem Tun hängen müsste: „Es ist Zeit, uns aufs Regieren vorzubereiten“. Der Satz wurde beklatscht, obwohl der Anspruch hoch ist, den sie damit an ihr eigenes Handeln, an das ihrer Partei und auch derer stellt, die sie dabei als Bündnispartner im Auge hat. Und obwohl es verschiedene bündnispolitische Probleme gibt, die vorher noch gelöst werden müssten, aber die von Schlein selbst bisher umgangen wurden.
Linke Lernprozesse
Es ist ja nicht so, dass das politische Konglomerat, das in Italien „mittelinks“ genannt wird, aus seiner Niederlage vor zwei Jahren nichts gelernt hätte. Die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische PD, hat sich eine neue Führung gewählt, die sich erfolgreich anschickt, den Elfenbeinturm zu verlassen, in dem sie für Jahre verschwunden schien. Elly Schlein, die neue Generalsekretärin, hat sich auf einer Gewalttour über die Marktplätze Italiens als eine Führerin der Linken erwiesen, die fähig ist, die Sorgen der „kleinen Leute“ aufzunehmen und sie zu Forderungen (Mindestlohn, Verbesserung des Gesundheitswesens) zu bündeln, die der Sozialpolitik der Rechten eine glaubwürdige Alternative entgegensetzen. Die rechte „Sozialpolitik“, die kaum diesen Namen verdient, hat sich bisher darauf beschränkt, den Ärmsten ihre Grundsicherung zu entziehen und mit ein paar einmaligen Bonuszahlungen abzuspeisen – und stattdessen ihre traditionellen Lobbies (Taxifahrer, Strandbesitzer) zu begünstigen.
Auch die einfache Lektion, die sich aus den inzwischen stattgefundenen Kommunal- und Regionalwahlen lernen lässt, schien weitgehend verarbeitet zu sein: Gegen die Rechte hat man nur eine Chance, wenn man vereint antritt. Das Problem liegt auch in der Umsetzung, beginnend bei der Spitzenkandidatur: Wenn es zwei Parteien gibt, die etwa gleich groß sind – oder dies zumindest zu werden hoffen – und sich dabei vor allem als Konkurrenten sehen, kann auch dies zur Blockade der Einheitssuche führen. In dieser Frage hat die Europawahl mit ihren 10% für Contes 5Sterne und 24% für die PD zu einer ersten Klärung geführt, wer der Koch und wer der Kellner ist – was allerdings nicht ausschließt, dass die PD bei der Kandidatensuche auch weiterhin die Präferenzen des Partners berücksichtigt. Denn das Wahlvolk der 5Sterne hat gezeigt, dass es eine Wahl auch dadurch entscheiden kann, dass es passive Resistenz übt – indem es einfach zu Hause bleibt.
Spalteritis im Zentrum
Und noch in einem zweiten Punkt hat die Europawahl eine Illusion zerstört: die Hoffnung, vom Zentrum her ließe sich eine dritte Kraft schaffen, die selbstständig in das politische Spiel um Italiens Zukunft eingreifen könnte. Es sei „kein Zufall“. so ein Kommentar, dass es Matteo Renzi sei, der notorische Spalter, der meist als erster merke, wohin sich gerade der Wind dreht, und deshalb jetzt auch wieder an die Mittelinks-Tür klopft. Was allerdings auf heftigen Widerstand bei den 5Sternen stößt. Der gleiche Renzi hatte im Februar 2021 die Regierung Conte2 (Koalition M5S-PD) gestürzt (Mattarella ersetzte ihn durch Draghi), was ihm weder die Führung noch die Anhänger der 5Sterne vergessen haben – „wenn demnächst Renzi auf den Plakaten des Campo largo als ihr Unterstützer erscheint, werden unsere Wähler zu Hause bleiben“. Da es hier auch um eine Frage der Menge geht – Renzi hat eine Wählerschaft von knapp 2%, Conte von 10 – muss hier bei aller Prinzipientreue zum „Campo largo“ auch Schlein ins Grübeln kommen.
Dass der “Campo largo“ höchst fragil ist, erweist sich gerade in diesen Tagen: Im laufenden Jahr stehen noch drei Regionalwahlen an, bei denen sich Mittelinks eigentlich gute Chancen ausgerechnet hatte, sie bei guter Vorbereitung mit vereinten Kräften gewinnen zu können. Das Argument jedoch, den eigenen Anhängern keinen „Campo largo“ präsentieren zu dürfen, der auch Renzi einschließt, ist plötzlich zum Flammenwerfer gegen alles bisher Vorbereitete geworden: „Ich bin nicht bereit“, verkündet Conte im Fernsehen, „mein Symbol neben das von Renzi zu setzen, der sich immer durch Zerstören und Verschrotten hervorgetan hat… Mit unseren politischen Zielen ist er wirklich inkompatibel, eine wahre Zeitbombe… Die Aktionseinheit gibt es nicht mehr“.
Mühsame Suche nach linker Aktionseinheit
Auf diesem Feld der Eitelkeiten und der großen und kleinen Platzhirsche bestand Elly Schleins Erfolgsrezept bisher darin, innenpolitisch im großen Fluss der politischen Programme und Detailwünsche nach den Elementen zu suchen, die sich verallgemeinern lassen, und in diese Suche auch die anderen Parteien einzubinden, so dass sie für den Erhalt und die Pflege des „Campo largo“ mit verantwortlich werden. Dass dieses Vorgehen erfolgreich sein kann – zumindest bis zu einem gewissen Punkt -, zeigen die bisher erreichten Ergebnisse: Das Profil der Linken wird von Forderungen geprägt, die inzwischen von einem breiten Konsens getragen werden, und zwar nicht nur für die Erhöhung des Mindestlohns und Verbesserungen im Gesundheitswesen, sondern auch für das Referendum gegen die „differenzierte Autonomie“ der Regionen, das die schon jetzt bestehende Spaltung des Landes in reich und arm noch weiter vorantreiben wird.
Aber neben der Spalteritis ihrer Bündnispartner hat Schleins Vorgehensweise einen weiteren Schwachpunkt: Sie beschränkt sich auf den Einigungsprozess im innenpolitischen Bereich, während sie gleichzeitig vor die Baustelle, die der mittelinken Außenpolitik Gesicht und Struktur geben soll, das lakonische Schild „Betreten verboten!“ gehängt hat – verbunden mit der illusionären Hoffnung, dass sich das so ausgeklammerte Problem schon irgendwann von selbst lösen werde.
Regierungsprojekt ohne Außenpolitik
Aber wenn das nicht geschieht? Das Ziel Putins – sagen die Historiker und Osteuropaforscher -, ist die Wiederherstellung des Imperiums, das seine Vorgänger in Gestalt der Sowjetunion schon einmal in Händen zu haben schienen und das er sich jetzt Schritt für Schritt und koste es was es wolle zurückerobern will – unter anderem auch deshalb, weil inzwischen das persönliche Schicksal des Autokraten von vorzeigbaren Erfolgen auf diesem Weg abhängt. Unter diesen Umständen darauf zu setzen, dass man die russische Kriegsmaschine allein mit dem Ruf „Pace“ zum Halten bringen könne, schreibt dem Wort magische Kräfte zu, die es nicht hat. Seitdem sie die Generalsekretärin der PD ist, pflegt ihm Elly Schlein, die selbst aus einem pazifistischen Elternhaus stammt, dem Wort ein leiseres „giusto“ hinterherzurufen, „gerecht“ soll der Friede sein, was hier tatsächlich die notwendige Ergänzung ist. Aber da sie meist um der Aktionseinheit willen auf eine genauere Diskussion der hierin enthaltenen Differenz verzichtet, klingt es manchmal eher nach schlechtem Gewissen als nach Überzeugung, was Conte in manchen Auseinandersetzungen in Vorteil bringt.
Keine Gefahr?
Was Elly Schlein um der Aktionseinheit willen ausklammert, ist in der Tat beachtlich – beachtlicher als viele bisher glauben, weil die Themen mit dem Potential zum Spalten bisher oft unter den Teppich gekehrt wurden. So geschehen in den letzten Jahren mit den Abstimmungen im EU-Parlament, in denen die 5Sterne-Gruppe alle Resolutionen zugunsten des ukrainischen Abwehrkampfes ablehnte, mit der Begründung, dass man damit nur die „Bellizisten“ unterstützen würde. Nach dem heutigen Stand der Dinge dürfte eine von den 5Sternen mitgetragene Regierung niemals Waffenlieferungen in die Ukraine zulassen – eine Perspektive, welche Frage aufwirft, ob eine solche Regierung überhaupt wünschbar ist.
Hinzu kommt, dass das reale, aber bisher weitghend weggezauberte Schisma noch weiter als bis zum Ukraine-Krieg reicht. Als Conte vor einigen Tagen nach seinem Urteil über den gegenwärtigen Kampf um die US-Präsidentschaft gefragt wurde, zeigte er sich erstaunlich unbesorgt um die amerikanische Demokratie: „Die freie Wahl der Bürger kann niemals eine Bedrohung für die Demokratie darstellen“. Gilt das auch für das Ergebnis? Contes Behauptung ist geschichtsvergessen: Sowohl das vorfaschistische Italien als das vornazistische Deutschland waren der Form nach Demokratien, die gut daran getan hätten, sich für gefährdet zu halten.
Was Conte gegenwärtig zusätzlich unberechenbar macht, ist seine Dauerauseinandersetzung mit den Traditionalisten in der eigenen Partei. Es sieht so aus, als ob es jetzt zum endgültigen showdown mit Grillo kommt, der seinen Anspruch, auf Ewigkeit der „Garant“ der 5Sterne zu sein, aktivieren will, um wieder die Zügel der „Bewegung“ in die Hand zu nehmen, die ihm in den letzten Jahren entglitten waren. Das Dauerthema ist die Regel der „zwei Mandate“, an der Grillo unbedingt festhalten will.
Durch sein postfaschistisches Erbe ist Italien eigentlich schon belastet genug. Hinzu kommt die Zerrissenheit auf außenpolitischem Gebiet, die beide Lager charakterisiert, aber vor allem das linke Lager regierungsunfähig macht. „Es ist Zeit, uns aufs Regieren vorzubereiten“, sagt Elly Schlein. Die zweite Hälfte des Wegs könnte zu einem Gang durch die Wüste werden.
Ein guter Artikel. Doch als deutscher Leser hätte ich gern gewusst, wer die offensichtlich dem rechten Lager zuneigenden „Strandbesitzer“ sind. Herr Heine, bitte klären sie mich auf.
Richtig, lieber Herr Weiberg, Sie haben mich ertappt. Ich hätte „Strandpächter“ schreiben müssen.
Das mit den Strandpächtern ist eine lange Geschichte und hat mit den notwendigen EU-Vergaberecht zu tun. Aus meiner “privaten” Sicht muss jede wünschenswerte italienische Regierung, sowohl hinter Israel stehen und auch die Ukraine gegen den russischen Aggressor vorbehaltlos mit Waffen und Finanzmitteln unterstützen.
Die Frage der Ukraine-Unterstützung, die in Italien das postfaschistische wie das Links-Mitte-Lager spaltet und in Deutschland zu merkwürdigen extremistischen Rechts-Links-Verwischungen führt (und bei SPD wie Grünen zu innerparteilichen Konflikten), ist letztlich eine Spaltung zwischen Pragmatikern und Ideologen. Sie bekommt vor allem ihre Spaltungsmacht durch mangelnde, meist nur Schlagwort-artige öffentliche Diskussion über Friedenssehnsucht und Gewaltherrschaft, Pazifismus und Widerstandsrecht, Diktat-Frieden und dauerhaf-gerechte Friedensordnung. Aus der Geschichte lernen und die Erfahrungen für die Beurteilung heutiger Entwicklungen nutzen (ohne „Damals“ und „Heute“ einfach gleich zu setzen) wäre vielleicht ein Weg. „Frieden schaffen ohne Waffen“ ist gut und richtig, um einen aggressiven Gewalt-Ausbruch nach Möglichkeit zu verhindern. Ist aus einem Konflikt erst ein Angriffs-Krieg entstanden, heißt Frieden schaffen die Gewaltherrschaft stoppen.