Emma Bonino: „ Europa steht auf dem Spiel“

Emma Bonino ist eine bekannte italienische Politikerin, die sich seit Jahrzehnten mit besonderem Engagement für Menschen- und Bürgerrechte einsetzt. Sie war zunächst, gemeinsam mit Marco Pannella, Leader der Radikalen Partei und später Präsidentin ihrer Nachfolgepartei +Europa, die einen liberal-europäistischen Kurs vertritt. Von 1995 bis 1999 war sie Europäische Kommissarin, u. a. für humanitäre Fragen. Von 2006 bis 2008 war sie Handels- und Europaministerin im zweiten Kabinett Prodi und später Außenministerin in der Regierung von Enrico Letta (PD). Bis 2022 war sie Senatorin.

Neben ihrer parlamentarischen und institutionellen Arbeit war Bonino in NGOs aktiv, die sich für den Schutz und die Förderung von Menschenrechten und Demokratie einsetzen. Anfang der 80er Jahre setzte sie sich für die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ein; 1993 gründete sie die NGO „No Peace Without Justice“ zum Schutz und Förderung von Menschenrechten, Demokratie und Rechsstaatlichkeit, die besonders intensiv die Arbeit des IStGH für das ehemalige Jugoslawien unterstützte.

In den letzten Jahren musste sie sich aufgrund einer schwerer Erkrankung von politischen Ämtern zurückziehen, ist aber noch in den öffentlichen Debatten präsent; ihre Meinung hat nach wie vor Gewicht. Bonino ist eine überzeugte Verfechterin der Europäischen Staaten von Europa.

In einem Interview mit der Journalistin Giovanna Casadio, die in der „Repubblica“ vom 5. Dezember erschien, geht sie auf die aktuellen Entwicklungen in europäischen Ländern und auf die Politik der postfaschistischen Ministerpräsidentin Meloni ein.

Zwei Anmerkungen zu dem im folgenden Interview, und zwar zu dem in ihm angesprochenen „Bossi-Fini-Gesetz“ und Boninos Gesetzesvorschlag „Ich war Ausländer“:

– Das umstrittene „Bossi-Fini-Gesetz“ (genannt nach den Erstunterzeichnern Gianfranco Fini und Umberto Bossi, die damals Minister in der Berlusconi-Regierung waren) wurde 2002 beschlossen. Es begrenzt die Einreisemöglichkeit nach Italien auf Migranten, die bereits im Herkunftsland über einen konkreten Arbeitsvertrag mit einem italienischen Arbeitgeber verfügen. Die Genehmigung des Aufenthalts ist auf zwei Jahre begrenzt, wenn der Vertrag nicht erneuert wird, tauchen die Betroffenen meist in Illegalität und Schwarzarbeit unter.

– Der von Boninos Partei ausgearbeitete und vom Parlament abgelehnte Gesetzesvorschlag „Ich war Ausländer“ sah vor, dass 1) für die Einreise bereits die Einladung eines italienischen Arbeitgebers ausreicht, der als „Garant“ für die Integration in den Arbeitsmarkt fungiert; 2) dem Arbeitssuchenden eine zeitlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigung zum Zweck der Arbeitsfindung erteilt wird; 3) Migranten mit irregulärem Aufenthalt ihren Status legalisieren können, wenn sie Beschäftigung und Integrationsleistungen vorweisen.

Hier das Interview in deutscher Übersetzung:

Europa steht auf dem Spiel, die Rechten wollen die Paralyse. Das Modell Albanien ist ein Reinfall.

„An der europäischen Front fürchte ich die von den Rechten provozierte Paralyse“. Emma Bonino ist zu Hause, sie erholt sich von einer schweren Erkrankung der Atemwege, aber ist in ständigem Kontakt mit den ‚Ihren‘ von +Europa, die gerade vor dem Chigi-Palast (Sitz der Ministerpräsidentin, Red.) demonstrieren, wo sich Giorgia Meloni und Viktor Orbán zu einem Gespräch getroffen haben.

Emma Bonino, ist es eine souveränistische Verirrung, in die uns die Premierministerin Meloni treibt?

„Ja. Es geschieht unter unseren Augen. Ich sehe Meloni immer noch gefangen in der nationalistischen Propaganda, die sie in den Palazzo Chigi mit den Slogans der Seeblockade gebracht hat, mit ihrem ‚nun ist Schluss mit lustig in Europa‘, dem Nein zum PNRR, der Kritik am Euro. Es fällt ihr schwer, sich mit der Realität abzufinden: Italien braucht eine stärkere EU sowohl für das Wachstum als auch für die Sicherheit, als auch für das epochale und strukturelle Thema der Migration. Dafür brauchen wir mehr Europa, und zwar sofort. Mit oder ohne Trump: Unsere bessere Zukunft sind die Vereinigten Staaten von Europa.“

Aber wo stehen wir jetzt? Die von Orbán unterstützte Meloni verweist für die Migranten auf das „Modell Albanien“, auf ihre Umsiedlung an das andere Ufer der Adria.

„Das Modell wird scheitern, meine ich. Wir hatten es Meloni gesagt: Die Kosten werden sehr hoch sein, mit unendlichen juristischen Streitereien, und die davon betroffene Anzahl von Personen wird nur marginal sein. Bei den Kosten und bei den Streitigkeiten lagen wir richtig, und bei der Anzahl waren wir sogar noch zu optimistisch, da es sich nur um 23 Betroffene handelte, die sofort wieder aufs Schiff gebracht und nach Italien zurückgebracht wurden“.

+Europa demonstriert jetzt vor dem Palazzo Chigi, war dies das Dringendste, was getan werden musste?

„Ja. Um daran zu erinnern, dass Orbán der Theoretiker der illiberalen Demokratie und Putins Freund innerhalb Europas ist. Und dass er das negative Beispiel dafür ist, wie Demokratien sich in Autokratien verwandeln können, die sich gegen Bürgerrechte wenden. Ich hatte – umsonst – gefordert, die turnusmäßige Präsidentschaft Ungarns der EU zu verschieben: das ist nicht geschehen, und gleich danach hat es die EU bereut.“

Ist die Krise der französischen Regierung ein Mosaikstein der Destabilisierung Europas?

„Es ist offensichtlich, dass der französisch-deutsche Motor der EU eine Panne hat. Wir werden sehen, wie sich die Krise in Paris entwickelt und wie die Neuwahl in Berlin ausgeht, jedenfalls ist klar, dass keiner (innerhalb der EU, Red.) von diesen Schwierigkeiten profitieren wird: weder in politischer noch in ökonomisch-finanzieller Hinsicht. Ich mag mich nicht wiederholen, aber leider ist – gerade auch wegen der Unsicherheiten, die mit der neuen Trump-Administration einhergehen und wegen der Kriege an den Grenzen der EU – das Europa der Nationalregierungen fragiler denn je. Ich werde nie aufhören, zu betonen, dass wir die Vereinigten Staaten von Europa brauchen.“

Was wird geschehen, was befürchten Sie?

„Auf der europäischen Front befürchte ich die Lähmung. Auf der innenpolitischen Front regiert Meloni seit mehr als zwei Jahren, doch sie hat in der Migrationsfrage nichts erreicht. Anders als Orbán, der erreicht hat, was er wollte – nämlich dass, wer nach Italien kommt, da bleiben soll, und dass dies nur eine italienische Angelegenheit ist und nicht die von Europa, Ungarn eingeschlossen. Das Schulterklopfen und die Versprechungen, man werde die Erfahrungen mit Albanien prüfen, dienen nur dazu, um die Ablehnung der souveränistischen Regierungen von gemeinsamen europäischen Lösungen für die Migration zu verstecken. Und auch wenn in den vergangenen Monaten die Zahl der Einreisen zurückgegangen ist, hat sich für Italien nichts geändert: wir haben die souveränistische Position akzeptiert und sind jetzt isolierter denn je. Wie kann man so etwas als Erfolg verkaufen wollen? Ich befürchte, hier wird die Lage nicht besser werden, weder für Italien noch für Europa.“

Sie haben sich als EU-Kommissarin mit humanitären Notsituationen von Migranten und Flüchtlingen beschäftigt. Haben Sie jemals daran gedacht, sie in Drittstaaten auszulagern?

„Die Auslagerung außerhalb der EU, wie im Fall Albanien, ist keine Lösung und wird nie eine sein, auch wenn man – was ich nicht tue – über die Rechte dieser Menschen hinwegsehen wollte. Wir haben die schnelle Kehrtwendung von Großbritannien bei Ruanda gesehen. An so etwas dachte ich nie. Was ich denke, ist vielmehr, dass es zu starken Partnerships mit den Herkunftsländern der Migranten kommen muss, um dort legale Einreisemöglichkeiten für Personen zu schaffen, die nach Europa zum Arbeiten kommen möchten. Das wäre eine gemeinsame Ausgangsbasis, die mit Sicherheit vielversprechender ist als polizeiliche Operationen an die Länder des südlichen Mittelmeers zu delegieren, die sich gegen die Migranten richten.“

Das neue „Decreto flussi“ (Gesetzesdekret zur temporären Einreise ausländischer Arbeitnehmer) wurde beschlossen, wo gibt es da Änderungsbedarf?

„Meloni und Salvini haben gemerkt, dass mehr ausländische Arbeitskräfte gebraucht werden und erhöhen die Anzahl der genehmigten Einreisen: das ist gut, löst aber das Problem nicht. Was geändert werden muss, ist das Bossi-Fini-Gesetz (s. hierzu Vorwort Red.). Die Einreisevoraussetzungen müssen modifiziert werden, was ich seit Jahren fordere, mit konkreten Vorschlägen wie dem Gesetzesvorschlag ‚Ich war Ausländer‘ (s. hierzu Vorwort Red.). Was die Liste der sicheren Herkunftsländer, im Zusammenhang mit Albanien, betrifft, so werden wir die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs abwarten müssen, das wird noch Monate dauern. Jedenfalls gehe ich davon aus, dass Meloni auch da kaum Ergebnisse erreichen wird.“