Für Europa: Kundgebung am 15. März in Rom
Vorbemerkung der Redaktion: Dass Europa vor drei Jahren durch den Angriff Russlands auf die Ukraine in Gefahr gebracht wurde, äußerte sich bei vielen Menschen zunächst in moralischer Empörung – es war ein Verstoß gegen das internationale Völkerrecht: ein schwächeres Land wird von einer Supermacht, die das Recht des Stärkeren über das Recht stellt, angegriffen und systematisch zerstört.
Es brauchte drei Jahre, um zu begreifen, dass die Empörung von 2022 noch zu kurz gegriffen war: Die Szene in Washington, als Trump den Helden von Kiew, Selenskyj, vor laufender Kamera erst mit Reparationsforderungen konfrontierte, ihn dann wegen „Respektlosigkeit“ wie einen Schuljungen beschimpfte und schließlich aus dem Weißen Haus warf, zeigte, dass die USA die Seite gewechselt und aus früheren Hilfsleistungen eine tödliche Falle gebaut haben. Wo sich die Ukraine bisher mit einer Supermacht auseinandersetzen musste, ist sie plötzlich in die Zange zwischen zwei Supermächten geraten.
Die Selbstgewissheit, mit der Trump seine Exekution vor aller Augen zelebriert, macht klar, dass sich Trumps Botschaft nicht nur an die Ukraine, sondern an ganz Europa richtet: Von nun an ist Unterwerfung eure einzige Chance. Wer sich noch widersetzt, wird gedemütigt und allein gelassen, gemeinsam mit den „europäischen Werten“, die so unzeitgemäß geworden zu sein scheinen.
Angesichts dieser Erfahrungen hat der Aufruf zu einer Kundgebung für die Einheit und Freiheit Europas am 15. März auf der römischen Piazza del Popolo seine eigene Geschichte und sein eigenes Profil. Ihr Ausgangspunkt war keine Initiative oder Absprache von Parteien, sondern die Bemerkung des Journalisten Michele Serra in seiner kleinen Rubrik, über die er in der „Repubblica“ verfügt, dass nun ja wohl „etwas Europäisches“ wie eine große zentrale Kundgebung vonnöten sei, zumindest in Italien, noch besser auch in möglichst vielen anderen europäischen Hauptstädten. Aus der Ausweitung auf andere europäische Hauptstädte wurde nichts, aber in Italien wirkte dies wie ein Katalysator: Serra wurde plötzlich mit einer Flut von Nachfragen und Ermunterungen überhäuft, wann und wo denn jetzt diese Versammlung stattfinden werde. Zusätzlich verstärkend wirkte die Direktive, die Serra der Initiative mit auf den Weg gab, bevor sie sich verselbständigte. Er wollte sie als eine „unten“, d. h. auch unterhalb der Parteien angesiedelte Bewegung modellieren. Vor allem durch die Auflage, keine anderen als nur Europafahne mitzubringen, welche die Piazza in ein einheitliches Blau tauchen sollten, und durch die besondere Präsenz sozialer und kultureller Organisationen.
Wie weise diese Maßregel war, zeigt sich schon jetzt, wo die am 4. März vom Europarat (auf Vorschlag Von der Leyens) getroffene Entscheidung, ein 800 -Milliarden-Programm für die europäische Aufrüstung aufzulegen, bereits zu heillosen Streitereien geführt hat, die sich auch auf die nationalen Bühnen der Mitgliedsstaaten fortsetzen wird: hier die „Pazifisten“ und „Putinisten“, die jede Art von Aufrüstung, und sei es zur eigenen Verteidigung, ablehnen; dort die „Rüstungsbefürworter“, die – wie von Ursula von der Leyen vorgeschlagen – einzeln, sprich auf nationaler Ebene, ihren Rüstungsetat erhöhen können; und schließlich diejenigen, die – wie von der PD-Generalsekretärin Schlein vorgeschlagen – anstelle von Aufrüstungen in den einzelnen Mitgliedstaaten ein Projekt zur gemeinsamen europäischen Verteidigung fordern, das von vornherein „interoperativ“ ist und über den militärischen Bereich hinaus auch weitere Sicherheitsbereiche umfasst.
Man kann die Demonstration auch als einen Versuch sehen, diese Spaltungen bereits im vorpolitischen Raum zu entschärfen. Mit Prognosen halten wir uns zurück.
Hier der von uns übersetzte Text von Serras Aufruf:
„Ein Platz für Europa
Die Welt verändert sich mit unerwarteter Geschwindigkeit, die Geschichte galoppiert und lässt nicht einmal den Achtlosesten und Faulsten einen Augenblick der Ruhe. Desorientierung und überhöhte Angst sind zur allgemeinen Befindlichkeit geworden: Jeder von uns merkt es bei den alltäglichsten Unterhaltungen. Dafür braucht es weder Politologen und Philosophen, sondern ein Freund am Bartresen genügt, um zu begreifen, dass man auf die Gegenwart mit Abneigung und in die Zukunft mit Sorge schaut.
Gibt es überhaupt noch den politisch-strategischen Begriff des ‚Westens‘, mit dem die letzten Generationen der Menschen aus dem Westen aufgewachsen sind? Was wird aus einem Europa werden, das uns heute wie der klassische Tontopf zwischen zwei Eisentöpfen erscheint (Anspielung auf eine Fabel von Äsop, AdR), die noch dazu mit Atombomben angefüllt sind? Wird der euopäische way of live diese Umklammerung überleben, die in Frage stellt, was wir ganz banal Demokratie nennen, nämlich Gewaltenteilung, gleiche Rechte und Pflichten für alle, Religionsfreiheit und laizistischer Staat, gleiche Würde und Sicherheit für Regierende wie Opposition.
Und wenn die Autokratien einfach und klar reden (und nach Belieben falsch, dank der ständigen technologischen Verfälschung der Realität), mit welcher Sprache soll Europa reden, damit seine Stimme nicht nur hörbar, sondern auch ebenso stark, überzeugend und sogar verführerisch sein soll wie die Stimme seiner Feinde?
Bei mir war es so, dass ich auf diese Fragen erst einmal eher instinktiv geantwortet habe. Vielleicht auf eine eher „sentimentale“ Weise – aber Emotionen gibt es, und ohne sie lebt man nicht gut. Vor wenigen Tagen habe ich mich in meiner Rubrik Amaca (in der Repubblica, AdR) unter dem Titel „Sagt was Europäisches“ … gefragt, warum man nicht eine große Bürgerdemonstration für Europa, für seine Einheit und für seine Freiheit organisiert. Nur mit europäischen Fahnen, ohne Parteifahnen. Was auf unmissverständliche Weise die Synthese zum Ausdruck bringen soll: „Hier entsteht Europa, oder man stirbt“ (Anspielung auf einen Ausspruch Garibaldis mit Bezug auf Italien, AdR). Ideal wäre eine solche Kundgebung am gleichen Tag zur gleichen Zeit in allen europäischen Hauptstädten, in einer heimischeren und besser erreichbaren Form, in Rom und/oder Neapel, und in der Hoffnung, dass der Funke auf den ganzen Kontinent überspringt.
In beiden Fällen ist die Flut von Mails und Botschaften, mit dem Tenor „Ich mache mit, ich bin dabei, sagt mir bloß wo und wann“, einfach beeindruckend. In Jahrzehnten meines öffentlichen Schreibens habe ich noch nie Vergleichbares erlebt. Es ist so, als wenn ich mich aus meinen beiden kleinen Fenstern gelehnt hätte, um zu schauen, ob unten auf der Straße ein paar Leute sind, mit denen ich ein Schwätzchen halten kann – und dann einen vollen Platz gesehen hätte. Ohne, dass jemand dazu aufgerufen oder so etwas organisiert hätte. Aber mit einer Entschiedenheit, dabei zu sein, die nicht bloß ein Wunsch, sondern eine Notwendigkeit ausdrückt. Und obwohl mir bewusst ist, dass dieses mediale Zusammentreffen von begrenzter Bedeutung ist, habe ich mir gedacht, dass es vielleicht lohnt, etwas zu insistieren. Es zu versuchen. Auch weil Unterlassungen in einer so schweren und konvulsiven Phase der Geschichte unverzeihlich wären.
Ich habe keine Ahnung, wie man eine Kundgebung organisiert. Das ist nicht mein Metier. Ich habe nicht die soziale Kompetenz und Geschicklichkeit, die notwendig sind, um eine solche Initiaive schnell und überzeugend in die Tat umzusetzen. Ich kann euch nicht mal genau sagen, wozu eine solche Kundgebung – mit leibhaftigen Menschen – in dieser neuen Epoche von Nutzen sein kann. Ob sie im Vergleich zu den fulminanten algorithmischen Versammlungen nur ein archaisches Ritual ist oder ein großzügiger Impuls, der allerdings angesichts der bestehenden politischen Schwierigkeiten (Europa einigen, aber wie? Und wann?) zu scheitern verurteilt ist.
Aber ich denke, dass eine Kundgebung nur mit europäischen Fahnen, die als einziges Ziel die Freiheit und Einheit der europäischen Völker hat, eine tiefe und für die Mitwirkenden ermutigende Funktion hätte. Egal wie nah dieses ist, was zählt ist die Vision. Denn man würde sich gegenüber den Ereignissen weniger allein und ohnmächtig fühlen. Und es wäre möglicherweise ein bedeutsames Signal für jene, die mit den politischen Agenden zu tun haben, denn sie könnten nicht darüber hinwegsehen, dass auch eine europäische Identität „von unten“ gibt. Ein innovatives politisches und revolutionäres Projekt, das sich nicht an der Vergangenheit orientiert, sondern von morgen spricht. Von Töchtern und Söhnen, von Enkelkindern.
Also wende ich mich an alle, die vielleicht eine Ahnung haben, wie man es realisieren kann. Sei es irgendein Wähler oder Parlamentarier, eine bekannte öffentliche Persönlichkeit oder ein anonymer Bürger. Verbände, Gewerkschaften, Parteien – wenn sie dazu bereit sind, in dem einfarbigen Blau der pro-europäischen Versammlung zu verschwinden. Ich habe mein Steinchen ins Wasser geworfen und hoffe nun, dass Steine ins Rollen geraten.“