Die Brüsseler Tischrede

Man glaubt es nicht. B. ist dabei, mitten in Europa ein autoritäres Regime zu errichten, die Gewaltenteilung aufzuheben, Medien und Justiz gleichzuschalten, und die EU schweigt. Unter B. werden Korruption, Gesetze ad personam und Abgeordnetenkauf zum politischen Alltag, und die EU schweigt. Jetzt werden seine Hasstiraden gegen die Justiz schriller, seine Drohungen konkreter, weil er sich auch noch ein Verfahren wegen Amtsmissbrauchs und der Begünstigung der Prostitution Minderjähriger einfing. Die EU hört es – und schweigt.

So auch wieder auf dem EU-Gipfel am 4. Februar in Brüssel. Dort ging es ja eigentlich um nicht ganz unwichtige Fragen: den erweiterten Schutz für die verschuldete Euro-Länder, die Revolution in Ägypten (was B. Gelegenheit gab, noch einmal seine Sympathie für Mubarak zum Ausdruck zu bringen). Aber B. hatte ein Anliegen, das ihm noch wichtiger war. Es wäre nicht an die Öffentlichkeit gedrungen, wenn nicht der letzte noch unabhängige italienische Fernsehsender „La7“ darüber berichtet hätte.

Die „Repubblica“ vom 14. 2. schildert es so: Die Regierungschefs saßen in einer Pause beim Essen und hatten eigentlich vor, informell weiter über die Gefährdung des Euro zu sprechen. Aber B. wusste, dass seine „Affäre Ruby“ die Runde gemacht hatte, und bat ums Wort. Um etwa Folgendes zu sagen: Nicht nur an den Ufern des Nils, sondern auch in einem anderen Land am Mittelmeer sei die Demokratie in Gefahr. Er meine Italien, wo kommunistische Staatsanwälte die Macht usurpiert hätten. Sie hätten sich angewöhnt, vom Parlament verabschiedete Gesetze an das Verfassungsgericht weiterzuleiten, damit es sie wieder außer Kraft setzt. Was dann auch geschehe, denn das Verfassungsgericht bestehe aus Kommunisten, die kommunistische Staatspräsidenten ernannt hätten. Dies sei der Rahmen, so wollte B. wohl sagen, um auch die „Affäre Ruby“ richtig einzuschätzen.

Die europäischen Regierungschefs sollen schweigend zugehört haben. Gegenwärtig gehören sie überwiegend zur Europäischen Volkspartei, man war also (fast) unter sich. Trotzdem schien sie der von B. suggerierte Vergleich der ägyptischen Moslembrüder mit dem italienischen Verfassungsgericht die Versammelten zwischen Hauptgang und Dessert nicht ganz zu überzeugen. Auch die vor der Tür wartenden Journalisten, die Wind von diesem Auftritt bekamen, hielten B.s Auftritt für nicht berichtenswert – die Leier war bekannt. So erwähnten ihn auch keine Pressekonferenz und kein Kommuniqué.

Kann man das Schweigen als erstes Zeichen der Vernunft werten? Ich meine: nein. Denn ich fürchte, dass B. mit derartigen Tiraden eine präzise Absicht verfolgt. Wenn er seinen europäischen Amtskollegen – und Fraktionsfreunden – immer wieder unwidersprochen einhämmern kann, dass die italienische Justiz nur deshalb gegen ihn vorgehe, weil sie parteiisch sei, besorgt er sich einen Persilschein. Und zwar dafür, der Justiz im eigenen Land das Rückgrat zu brechen, d. h. die Unabhängigkeit zu nehmen, und sie zum eigenen Vollzugsorgan zu machen. So bereitet er Europa auf den Regimewechsel vor, an dem er längst arbeitet.

Es genügt auch nicht, im Schweigen der Regierungschefs einfach nur Feigheit und Opportunismus zu sehen. Denn es macht Europa zu B.s Komplizen. Und es wirft die Frage auf, für welches Europa diese Regierungschefs samt EVP eigentlich stehen. Als Viktor Orban am 19. Januar vor dem Europaparlament seine Pläne zur Einschränkung der Meinungsfreiheit in Ungarn verteidigte, soll ihm die EVP-Fraktion, wie die Zeitungen berichteten, „frenetisch“ Beifall geklatscht haben. Mit fraktioneller Solidarität allein ist das nicht mehr zu erklären. Was spielt sich hier eigentlich ab?

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