Massengrab Mittelmeer

Fast täglich erreichen überfüllte Boote aus Afrika die kleine Insel Lampedusa. Wir erinnern uns: B. hatte vor ein paar Monaten versprochen, Lampedusa „innerhalb von zwei Tagen von Flüchtlingen zu befreien“. Die Flüchtlinge kommen weiter, aus Äthiopien, Somalia, Libyen, Nigeria. Überwiegend junge Männer, aber auch Frauen, von denen viele schwanger sind, und Kinder. Sie sind dehydriert, fast verhungert, entkräftet. Viele müssen medizinisch versorgt werden. Und viele schaffen es nicht. Nach Fortress Europe, dem Blog, der seit Jahren Daten über vermisste und umgekommene Flüchtlinge sammelt, haben allein im Jahr 2011 bisher über 1600 Menschen ihr Leben im Mittelmeer verloren.

In der Nacht vom 1. August rettet die italienische Küstenwache, wie schon oft, Flüchtlinge aus Seenot. Sie fand an Bord eines 15m langen Bootes ca. 300 Menschen. Viel zu viele. Und es waren nicht alle. Die Flüchtlinge zeigten verzweifelt auf den unter Deck liegenden Motorraum. Als die Männer der Küstenwache die Falltür hochzogen, schlug ihnen unerträglicher Verwesungsgestank entgegen. Was sie sahen, war grauenvoll: 25 Menschen lagen tot in dem fensterlosen winzigen Raum, einige von ihnen mit Verletzungen an Kopf, Armen und Beinen. Um das Boot so voll wie möglich zu kriegen, hatten die kriminellen Menschenschlepper die ersten an Bord gegangenen Flüchtlinge in den Motorraum eingeschlossen. Dann wurden die anderen ins Boot geholt. Zwei Tage und zwei Nächte dauerte die Reise. Vergeblich versuchten die Eingeschlossenen ins Freie zu kommen: wer es schaffte, die Falltür zu öffnen, wurde brutal mit Knüppeln in das Loch zurückgeschlagen. Dann starben die Menschen. „Wie Ratten in der Falle“ sagte einer der Überlebenden. Die Schlepper sind inzwischen verhaftet und des Mordes angeklagt worden.

Einige Tage später die nächste Tragödie. Motorboote der Küstenwache erreichen am 4. August – 90 Seemeilen vor Lampedusa, noch in libyschen Gewässern – ein havariertes Boot mit 200 Menschen, seit fünf Tagen ohne Wasser und Nahrung. Die traumatisierten Flüchtlinge erzählen, viele von ihnen (ca. 30 nach bisherigen Erkenntnissen), vor allem schwächere Frauen und Kinder, seien verhungert und verdurstet. Die Leichen hätten sie ins Wasser geworfen, weil sie schon am Verwesen waren. Ein Boot aus Zypern, das sich in ihrer Nähe befand, habe nichts zu ihrer Rettung unternommen. Es hatte lediglich ein SOS gesendet, u.a. an ein NATO-Schiff, das 27 Seemeilen weiter patrouillierte. Ergebnislos. Außenminister Frattini hat wegen unterlassener Hilfeleistung eine Beschwerde an die NATO gerichtet und eine Untersuchung beantragt.

Ein paar verhaftete Menschenschlepper und ein formaler Protest des italienischen Außenministers an die NATO (der vermutlich genauso formal beantwortet werden wird). Und dann geht man wieder zur Tagesordnung über. Die europäischen Regierungen und die europäische Öffentlichkeit ignorieren das Massensterben im Mittelmeer. Europa schickt Militärschiffe und Bombenflieger nach Libyen, um dort die Bevölkerung zu schützen, heißt es. Der Schutz gilt aber offenbar nur für diejenigen, die bleiben, wo sie sind. Oder in ein womöglich noch ärmeres Nachbarland fliehen, wie die meisten von ihnen. Aber wehe, wenn sie versuchen, nach Europa zu kommen. Für diejenigen, die vor Krieg, Gewalt, Hunger und Armut fliehen und den lebensgefährlichen Weg nach Europa wagen, fühlt sich Europa nicht zuständig. Nicht einmal, wenn sie vor unseren Augen sterben.

Keiner sage, man habe wieder „nichts gewusst“.


Hier eine – stark verkürzte und nur „exemplarische“ – Chronologie des Todes im Mittelmeer im Jahr 2011 (bisher):

  • 11. Februar: ein Boot geht unter, 40 Vermisste, alle wahrscheinlich tot.
  • 14. Februar: 5 Tote und 17 Vermisste.
  • 22. März: Ein Boot mit 335 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea startet in Libyen, kommt nie an.
  • 28. März: 12 Flüchtlinge ertrinken, als ihr Boot kentert.
  • 30. März: 7 Menschen ertrinken, u.a. eine schwangere Frau und ein Kind.
  • 3. April: 70 Leichen werden nach dem Untergang ihres Bootes vor Tripolis Küste geborgen.
  • 6. April: Ein Boot kentert vor Malta, 51 Menschen werden gerettet, Überlebende sagen, dass über 300 an Bord waren. Im Meer werden Dutzende von Leichen gesichtet.
  • 6. Mai: Ein Boot mit über 600 Flüchtlingen versinkt vor der libyschen Küste, hunderte Vermisste.
  • 3. Juni: Havarie eines Schiffes mit über 700 Menschen an Bord, 150 Tote und 270 Vermisste .
  • 1. August: 25 Leichen werden aus dem Motorraum eines Bootes geborgen. Erstickt oder zu Tode geprügelt.
  • 4. August: Etwa 30 Tote nach Havarie eines Bootes. Verhungert, verdurstet, ertrunken.

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