Bella Germania für die ’Ndrangheta

Stell dir zwei Länder auf einem fernen Kontinent vor, eins heißt GARMENIEN; das andere CHAOTIEN. In CHAOTIEN bekämpfen Justiz, Polizei und der nicht korrupte Teil der Politik eine Verbrecherbande. Die Menschen in GARMENIEN schauen mit Herablassung auf die Menschen in CHAOTIEN und sagen: „Bei uns könnte das nicht passieren“. Aber auch die Verbrecher aus CHAOTIEN lieben GARMENIEN. Und schicken dort ihre Leute hin, um sich zu erholen, nette Restaurants zu eröffnen, Drogen zu verkaufen, in Ruhe Geld zu waschen und Geschäfte mit der ganzen Welt zu tätigen. Fragt man sie, warum GARMENIEN für sie ein Paradies ist, antworten sie lächelnd: „Weil dort alle glauben: Das kann uns nicht passieren. Wir lassen sie in diesem Glauben“.
 
Jemanden erinnert diese Geschichte an etwas? Wäre Zufall!
 
Die kalabresische Mafia `Ndrangheta kontrolliert (laut „Repubblica“ vom 22. Juni) 80 % des europäischen Drogenhandels, was jährlich 27 Mrd. € bringt. Gestützt auf kalabresische Emigranten pflegt sie Verbindungen zu den Drogenmafias von Afghanistan bis Südamerika. Europaweit investiert sie in Immobilien und Touristendörfer, Gesellschaften und Finanztitel, Erpressung und Waffenhandel. Sie handelt auch mit Wählerstimmen. Ein echter Multi.
 
Die EU wurde von ihr weitgehend kolonisiert: Spanien, Portugal, Großbritannien, Irland, Frankreich, Schweiz, Belgien, Holland (die Häfen!), Rumänien, Bulgarien, Balkan-Länder. Und Deutschland. Das Blutbad, zu dem es im Juli 2007 in Duisburg zwischen zwei um die Vorherrschaft kämpfenden `Ndrangheta-Clans kam, war eher ein Betriebsunfall. Aber den BND und die deutsche Polizei hat es so weit aufgeschreckt, dass sie wenigstens begannen, das Ausmaß der Infiltration in Deutschland genauer zu untersuchen.

Die `Ndrangheta hatte eine einfache, aber effiziente Organisationsstruktur. Ihre Zellen oder Grundeinheiten heißen „`ndrine“, die (anders als bei der Cosa Nostra) auf familiärer Basis arbeiten. In Deutschland arbeiteten 2009 mindestens 230 „`ndrine“, mit etwa 1800 Personen. Sie widmen sich dem Drogenhandel und anderen Geschäften in Berlin, Bochum, Detmold, Dresden, Duisburg, Düsseldorf, Engen, Erlangen, Frankfurt a.M., Freiburg, Hannover, Krefeld, Köln, Leipzig, Ludwigsburg, Mannheim, Mülheim, München, Munster oder Münster, Neunkirchen, Nürnberg, Ravensburg-Schweinfurt, Saarbrücken, Sieburg, Stuttgart, Tübingen. (Das ist, wie gesagt, der Stand von 2009, die Neuen Bundesländer waren für die ‚Ndrangheta noch unerschlossen, das dürfte sich langsam ändern). Die Namen der Familien und ihre kalabresischen Herkunftsorte sind bekannt, sie standen in der „Repubblica“. Arbeiten an einem Ort mehrere `ndrine, können sie, wenn sie 49 Personen umfassen, zu sog. „Locali“ zusammengefasst werden, die jeweils einem „Mutterhaus“ in Kalabrien zugeordnet wird. In Deutschland gibt es mindestens 6 „Locali“: in Engen, Frankfurt, Ravensburg, Rielasingen, Singen, Stuttgart. Die „`ndrine“ und „Locali“ sind bei Kokain-Lieferungen oder Immobilien-Investitionen relativ eigenständig, weitergehende Entscheidungen fällt die kalabresische Zentrale, welche die Aktivitäten im In- und Ausland koordiniert. In der Gemeinde S. Luca residiert der organisatorische Kopf der `Ndrangheta (liebevoll „Mamma“ genannt), der hier jedes Jahr nach archaischen Regeln und unter dem besonderen Schutz  der Madonna di Polsi (Wallfahrtsort) neu bestimmt wird.
 
Deutschland und das restliche Europa sind für die `Ndrangheta ein gemütliches Pflaster, weil hier, anders als in Italien, die Mitgliedschaft in einer mafiosen Vereinigung keine Straftat und somit die kriminelle  `Ndrangheta juristisch eigentlich inexistent ist. Kommen nicht weitere Gründe hinzu – Mann wird mit rauchender Pistole neben Leiche erwischt -, ist vorbeugende Untersuchungshaft oder Beschlagnahme von Vermögenswerten unzulässig. In Italien muss ein Restaurantbesitzer beweisen können, dass sein Geld aus sauberen Quellen stammt. In Deutschland ist es das Gericht, das dem Restaurantbesitzer das Gegenteil beweisen muss. Kürzlich gestand ein französischer Polizeikommissar vor der europäischen Antimafia-Kommission: „Wir sind blind“. Erst vereinzelt fangen deutsche Richter und Staatsanwälte an, sich das Thema systematisch vorzunehmen und sich dabei auf den Sachverstand italienischer Kollegen zu stützen (s. Petra Reski, Von Kamen nach Corleone, Die Mafia in Deutschland).
 
In allen europäischen Ländern müsste die Rechtsprechung – nach italienischem Vorbild (!) – so verändert werden, dass ein gezieltes Vorgehen gegen die Mafia möglich wird. Genauso gesamteuropäisch, wie die `Ndrangheta agiert, muss auch der Kampf gegen sie koordiniert werden. Solange dies nicht geschieht, leisten ihr Deutschland und Europa Beihilfe.

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