Die neue Regierung tritt an
Am Montag hielt der neue Regierungschef Enrico Letta im Parlament seine Antrittsrede, 45mal (jemand hatte mitgezählt) von Beifall unterbrochen. Nach kurzer Debatte wurden ihm und seiner Regierung mit breiter Mehrheit das Vertrauen ausgesprochen: PD, PdL und Montis Lista Civica stimmten für ihn, die Grillini und Vendolas SEL dagegen, die Lega enthielt sich. Am Dienstag folgte der Senat. Italien hat wieder eine handlungsfähige Regierung.
Der „Wachstumsplan“
Also alles gut? Das Regierungsprogramm, das Letta vorstellte, ist vielversprechend. Zunächst die frohe Botschaft für alle Wohnungsbesitzer: Die im Juni fällige Rate der Erstwohnungssteuer wird ausgesetzt – die Regierung will eine Reform erarbeiten, welche „die Familien entlastet, vor allem die einkommensschwächeren“. Das ist nicht hundertprozentig das, was B. im Wahlkampf versprach – er wollte die Steuer ganz abschaffen und das dafür 2012 gezahlte Geld zurückerstatten -, aber ein großer Schritt in seine Richtung. Der nächste Wahlsieg ist ihm sicher.
Auch sonst sollen die Steuerschrauben anders gestellt werden: Verzicht auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer im Juli, Anreize für stabile Beschäftigung, den Übergang älterer Arbeitnehmer in Teilzeit und die Neueinstellung jüngerer. Weitere Hemmnisse der wirtschaftlichen Wiederbelebung sollen beiseite geräumt werden: Die Genehmigungsverfahren sollen verschlankt und beschleunigt werden, die (horrenden) Zahlungsrückstände der öffentlichen Verwaltung gegenüber der Wirtschaft „teilweise“ beglichen, die Vorschriften für die interne Haushaltsdisziplin gelockert werden.
Ansonsten soll für das Problem der „Esodati“ (die durch Montis Heraufsetzung des Rentenalters ins finanzielle Niemandsland gerieten) eine „strukturelle Lösung“ gefunden, die Arbeitslosenkasse aufgestockt, die prekäre Beschäftigung im Öffentlichen Dienst reduziert und die Möglichkeit einer Sozialhilfe für bedürftige Familien zumindest „studiert“ werden.
Wie soll es bezahlt werden, wo bleiben Strukturreformen, und vor allem: was wird ausgeklammert?
Wie soll der Plan bezahlt werden?
Die „Repubblica“ schätzt die Kosten auf etwa 10 Mrd. €. Andererseits will Letta die öffentlichen Aufwendungen für die „Politik“ radikal reduzieren, um sie wieder „glaubwürdig“ zu machen. Aber 10 Mrd. würde es nicht bringen. Also geht es nur mit zusätzlicher Verschuldung, und das könnte zur Achillesferse werden. In seiner Antrittsrede verband Letta sein Bekenntnis zu Europa – bei seinem Partner Berlusconi nicht ganz selbstverständlich – mit der Ankündigung, auch auf dieser Ebene eine wachstumsfreundlichere Lockerung der Sparauflagen zu fordern.
Die „Konvention“ für Strukturreformen
Auf die Frage nach den vielbeschworenen Strukturreformen gibt Letta eine nicht gerade innovative Antwort: eine Kommission, diesmal „Konvention“ genannt, die dafür innerhalb von 18 Monaten einen Vorschlag erarbeiten soll. Ich erspare mir die Aufzählung ihrer Vorgänger, deren Vorschläge meist im Papierkorb landeten. Sondern erwähne nur, dass eine von ihnen, die 1997 von D’Alema eingerichtete „Bicamerale“, vor allem die Wirkung hatte, B. vor dem politischen Absturz zu bewahren. Er hatte damals gerade die Wahlen verloren und erwartete nun den Todesstoß in Gestalt einer gesetzlichen Regelung seines Interessenkonflikts – die ausblieb, weil D’Alema glaubte, ihn als Mitakteur der „Bicamerale“ schonen zu müssen. So ist es fast ein Déjà-vu-Erlebnis, wenn jetzt B. verlauten ließ, gern die „Konvention“ leiten zu wollen. Das würde ihm so passen: zum Herren der angemahnten Strukturreformen zu werden – und den „Presidenzialismo“ einführen zu können, von dem er schon lange träumt (mit sich als Präsidenten).
Die erneute Einführung einer solchen Institution verstärkt die sowieso vorhandene Tendenz – siehe Montis Regierung der „Techniker“ und Napolitanos Rat der „Weisen“ -, wichtige politische Entscheidungen aus dem Parlament auszulagern, auch wenn diesem formal die Letztentscheidung bleibt.
Was fehlt, was bleibtBekanntlich kann man sich auch zur Untätigkeit entscheiden – beim Thema Interessenkonflikt hat die Regierung offenbar genau dies vor. Das ist der Preis, den Letta für das Bündnis mit B. zahlt: Die „Anomalie“, die er verkörpert, d. h. die Verbindung von Medienmonopol, Geschäft und Politik, wird nicht angetastet. Auguri, Silvio, du hast es wieder einmal geschafft. Auch das Thema „Korruption“, eine weitere Demutsgeste gegenüber B., wird nur mit Samthandschuhen angefasst: Um das Investitionsklima zu verbessern, müsse etwas für die „Rechtssicherheit“, die „Moralisierung des öffentlichen Lebens“ und gegen die „Korruption“ getan werden. Dem widerspricht nicht einmal B. – ein Besen, der so begründet wird, kann nicht eisern sein.
Wie lange wird die Regierung halten? Vielleicht nur bis morgen, denn die Meinungsumfragen sind für B. zur Zeit verlockend günstig. Je früher Neuwahlen stattfinden, desto besser für ihn. Auch Teile der PD hoffen, aus der Allianz mit B. nur eine Regierung mit begrenztem Auftrag und begrenzter Dauer zu machen: ein halbes, maximal ein Jahr, um ein neues Wahlgesetz und ein paar dringende soziale und wirtschaftliche Maßnahmen zu beschließen. Und dann Neuwahlen. Aber Lettas Regierungserklärung klint anders. Allein der „Konvention“ will er 18 Monate geben, um Vorschläge für Strukturreformen zu erarbeiten. Die dann auch noch vom Parlament beschlossen werden müssten, und das dauert …
Auch die Rhetorik der „Versöhnung“, in die Letta seine Erklärung verpackte, spricht dagegen. Zum Schluss zitiert er den biblischen Kampf Davids gegen Goliath, offenbar setzt er die Krise mit Goliath und seine Regierung mit David gleich. Dann aber verrutscht ihm die Metapher: David habe in diesem Kampf die Waffen abgelegt, und dementsprechend sei es jetzt auch an der Zeit, zwischen Links und Rechts die Waffen niederzulegen. Damit schreibt Letta, der regelmäßige Besucher der Heiligen Messe, nicht nur die Bibel (der Sieg Davids über Goliath war eine blutige Angelegenheit), sondern auch die italienische Geschichte um: das Hauptproblem der letzten 20 Jahre war nicht die Aufrüstung zweier verfeindeter Lager, sondern die sich dahinter vollziehende Korrumpierung. Dass sich daran nichts ändert, dafür liefert Letta jetzt auch noch den ideologischen Kitt.
Wenn die ‚Repubblica‘ schätzt, dass die angedachten Reformen ca. 10 Milliarden kosten, nun das könnte Italien durchaus stemmen, ohne die Brüsseler Vorgaben zu gefährden. Allein der Absturz der Renditen hat ja schon ein Vielfaches davon gebracht. Was allerdings natürlich schon für die Bezahlung von offenen Rechnungen an die Privat-Industrie verplant ist.
Die Rendite kann aber durchaus von den momentanen 3,9% noch weiter sinken, das ist realistisch.
Wenn man eine vernünftige, wachstumsfördernde Steuerpolitik einführen würde, ergäben sich beträchtliche Potentiale.
Aber ausgerechnet die am wenigsten geeignete Massnahme dazu ist die Fokussierung auf die IMU. Die OECD hat es laut der ‚Stampa‘ (2.5.) klar auf den Punkt gebracht:
„La priorità è la riduzione delle tasse sul lavoro e non l’IMU.“
Recht hat sie, auch wenn Montis IMU eine soziale Schieflage hatte.
Die neue IMU (mit realistischeren Katasterwerten) an und für sich hat die sinnvolle ordnungspolitische Rolle, Kapital aus volkswirtschaftlich dysfunktionalen Bereichen wie dem Immobilienmarkt in funktionalere Bereiche wie den Aufbau von Arbeitsplätzen zu lenken.
IWF-Chefvolkswirt Blanchard hat in einem seiner Bücher (Blanchard/Illing, Makroökonomie, 2009) überzeugend beschrieben, wie Italien vor Jahrzehnten begann, seine Produktivität zu vernachlässigen. Das Ergebnis davon sieht man u.a. in den lausigen Löhnen und Gehältern in Italien heute.
In derselben Zeit, in der diese Vernachlässigung Platz griff, stiegen absolute Staatsschulden und jährliche Neuverschuldung an, während das Wachstum kaum zulegte und die Arbeitslosigkeit stetig von Jahr zu Jahr wuchs (s. z.B. plastisch das Schaubild ‚Dati macroeconomici italiani‘ in ‚Wikimedia Italia‘).
Das ist nichts anderes als die totale Bankrotterklärung der Idee Keynes’scher Stimuli unter italienischen Bedingungen.
Und was wird jetzt gefordert:
Keynes’sche Stimuli à la Camusso-Plan.
Same procedure as every decade. Japan probiert das seit 25 Jahren, mit mitleiderregenden Ergebnissen.
Echte Strukturreformen im Arbeitsmarkt oder bei den Steuern und in der Bürokratie wären keineswegs besonders schmerzhaft für den Normalbürger. Aber wirksam.
Die Analysen von Blanchard und vielen anderen belegen dies ziemlich eindeutig.
Allerdings wären sie für einige Interessen-Gruppen ein rotes Tuch.
Und deswegen eröffnet Letta erfolgreich Nebenkriegsschauplätze wie die angebliche Notwendigkeit einer gesamteuropäischen Wachstumspolitik.