Der italienische Blick auf Griechenland
„Wenn wir uns Europa wie eine kolossale Finanzgruppe vorstellen, dann kann es ‚berechtigt‘ sein, dass man eine ihrer Teilgesellschaften, die von geringerem Gewicht ist und vielleicht schlecht von einem überforderten Management geführt wird, ruhig pleite gehen lässt. Wichtig ist nur, dass sie nicht die anderen ansteckt“ (Massimo Cacciari, Philosoph und ehem. Bürgermeister von Venedig, Träger des Hanna-Arendt-Preises, am 1. 7. in der „Repubblica“).
Ich preise jeden glücklich, der die griechische Tragödie, die sich vor unseren Augen abspielt, ganz zu durchschauen glaubt. Und halte mich erst einmal an das, was Jürgen Habermas am 22. Juni dazu in der „Süddeutschen“ schrieb (er ist einer der wenigen, die in den letzten Jahren zu Europa einen weiterführenden Gedanken entwickelten). Die Zitate des folgenden Abschnitts stammen von ihm.
Allseitiges Versagen
Alle Seiten haben Fehler gemacht. Habermas lässt die Tragödie 2010 beginnen, als es Brüssel und der deutsche Hegemon versäumten, den Schuldenschnitt zu machen, welcher der griechischen Wirtschaft tatsächlich eine Chance gegeben hätte. Und die seitdem „hartleibig“ an einer Sparpolitik festhalten, die „barbarische Kosten verursachte und nachweislich gescheitert ist“ (noch vor 5 Jahren nahm der IWF an, die Sparmaßnahmen würden das Bruttoinlandprodukt um 5 % verringern. Daraus wurden bis heute 25 %). Der Fehler liege aber auch bei der Regierung Tsipras, die zwar mit Emphase die „neoliberalen Zumutungen“ zurückwies, es aber bisher versäumte, ernsthaft die fällige Modernisierung von Staat und Wirtschaft zu beginnen, einen Lastenausgleich vorzunehmen, Korruption und Steuerflucht zu bekämpfen. Und er liege in der „Fehlkonstruktion“ Europas, „eine Währungsgemeinschaft ohne politische Union“. Ein Europa, in dem sich die Politiker als „Zombis“ finanzpolitischer Interessen begegnen und „papageienhaft“ darauf beharren, dazu vom eigenen „Volk“ autorisiert zu sein. Was Habermas am 22. Juni noch nicht wusste: In dem alles in Ohnmacht fällt, wenn jemand sein Volk über eine es existenziell betreffende Entscheidung abstimmen lässt. Eine demokratisch legitimierte Instanz Gesamteuropas gibt es bisher nicht. Im real existierenden Europa, das zeigt die Brüsseler Empörung, wird Demokratie zum Fremdkörper.
Die Antwort Renzis
Für das gegenwärtige Europa, das von finanzpolitischen Erwägungen dominiert wird, ist Griechenland mit seinem 2 %-Anteil an der gesamteuropäischen Wirtschaftsleistung ein kleiner Fisch. Trotzdem ist die italienische Reaktion interessant, weil man befürchtet, ein Grexit könnte zum „Contagio“, zur „Ansteckung“ führen, weil es die Finanzmärkte zum spekulativen Angriff auf die nächstschwächeren Länder mit hoher Staatsverschuldung einlädt. Damit rückt Italien in den Blick. In einem Interview, das Renzi am 30. Juni der Zeitschrift „Il Sole 24 Ore“ gab, geht es vor allem um diese Befürchtung. Das politische Problem, das in der gegenwärtigen Griechenland-Krise und dem möglichen Grexit steckt, scheint auch ihn nicht zu interessieren (zumindest nicht in diesem Interview). Italien sei nicht in der Gefahr, versichert er, noch einmal ins Visier der Finanzmärkte zu geraten. Erstens könne man sich jetzt auf die EZB verlassen, um spekulative Angriffe auf die Staatsschuldverschreibungen abzuwehren. Und zweitens mache Italien seine reformpolitischen Hausaufgaben. Er kritisiert Tsipras, der den Schlaumeier („furbo“) spiele, sich an keine Regeln halten wolle und dessen letztes Nein zu den Vorschlägen der Troika „unnötig halsstarrig“ gewesen sei, zumal Angela Merkel am Ende der Verhandlungen „wirklich alles versucht“ habe. Wobei er allerdings im eigenen Interesse nicht auf den Hinweis verzichtet, dass die bisherige rigide Austeritätspolitik Europas „gescheitert“ und mehr „Flexibilität“ angesagt sei.Tsipras, mon amour
Auf eine andere „Ansteckungsgefahr“ geht Renzi nicht ein. Die Umfragen zeigen, dass die proeuropäische Stimmung, die es einst in der italienischen Bevölkerung gab, verblasst ist. Nicht nur wegen der Bilder des Elends, die aus Athen kommen. Sondern weil jeder Italiener am eigenen Leib erfährt, was ein verarmender Staat bedeutet: eingefrorene Löhne, gekürzte Renten, verfallende Schulen, ein immer maroder gewordener öffentlicher Nahverkehr, ein verschlechtertes Gesundheitswesen.
Da werden Tsipras und seine Syriza zum Konvergenzpunkt von ganz Links bis ganz Rechts, mit antideutschen Ressentiments als gemeinsamem Nenner. Nicht nur Vendolas SEL und die Linke in und außerhalb der PD, sondern auch Renato Brunetta von der FI, die „Fratelli d’Italia“ (Neofaschisten) und vor allem der neue starke Mann der Lega, Matteo Salvini (der sich mit Martine Le Pen verbündet hat), entdecken ihr Herz für Tsipras, sein Referendum und sein Nein zu den EU-Vorschlägen. Da witterte auch Grillo seine Chance, und kündigte an, beim Referendum am 5. Juli in Athen zu erscheinen – wohl in der Annahme, das werde die Griechen endgültig vom Nein überzeugen. Das nutzte der Vertreter von Syriza in Italien, Panagopoulas, am 1. Juli zu einer Klarstellung. „Das ist kein Referendum gegen den Euro, und wir bedauern, dass Grillo die gleiche Auffassung wie Merkel und Renzi vertritt. Wir wollen nicht den Euro verlassen, sondern ein anderes Europa schaffen“. Es wird für Grillo noch schlimmer: „Der Populismus, die Fremdenfeindlichkeit und der Rassismus gehören nicht zu uns, da machen wir das Gegenteil von Grillos Politik. Ich hörte auch, dass Salvini und Brunetta nach Griechenland kommen wollen. Wir haben mit Grillo und Salvini nichts zu schaffen, sie sind nur die Kehrseite des Neoliberalismus“. (Gut gebrüllt, Syriza, nur wünschte man sich von ihr die gleiche Konsequenz auch in der innergriechischen Politik.)
Der verlorene Glanz Europas
Man sollte sich keine Illusionen machen: In den Augen der Italiener hat der „europäische Gedanke“ seinen Glanz verloren (wozu, leider, die deutsche Politik kräftig beigetragen hat). Leidenschaftliche Plädoyers für ein Verbleiben Griechenlands in einem gemeinsamen Europa, für die z. B. ein Massimo Cacciari die gemeinsame Kultur beschwört, bleiben die Ausnahme. Vielleicht die überzeugendste Stimme unter den verbliebenen Pro-Europäern ist die des ehemaligen Ministerpräsidenten Prodi, der in den letzten Tagen erklärte, natürlich müsse man mit den Griechen weiter verhandeln, wie das Referendum auch immer ausgehe. „Dieses Jahrhundert ist dabei, das beste Projekt, das auf den Trümmern des letzten Jahrhunderts entstand, zu zerstören. Ich möchte hoffen, dass Athen nicht zu unserem Sarajevo wird. Wir müssen es verhindern“. Deutschland sei zwar zur europäischen Hegemonialmacht geworden, nutze sie aber nicht – zumindest nicht im Interesse aller europäischen Länder. So fordert auch Prodi die Schaffung einer demokratisch legitimierten gesamteuropäischen Autorität. Wie Habermas nimmt er das Offenkundige ernst: Dass Europa, welches einmal geschaffen wurde, um dies alles zu überwinden, in seiner heutigen Verfasstheit wieder zur Brutstätte nationalistischer Borniertheit und wechselseitigen Hasses werden könnte.
Es ist Montag, der 6. Juli. Gestern haben die Griechen das „Angebot“ der Euro-Gruppe mit über 60 % abgelehnt. Seit einigen Stunden wissen wir auch: Varoufakis tritt zurück, weil ihm sein Regierungschef gesagt habe, das könne „hilfreich“ für die kommenden Verhandlungen sein. Nun, denke ich, wird auch Schäuble zurücktreten, um nicht hinter Varoufakis zurückzustehen. Er wird erklären, diesen Rat habe ihm seine Kanzlerin gegeben, es könne hilfreich für einen europäischen Neuanfang sein. Unsere Politiker sind ja nobel und lernfähig. Und denken zuerst ans Gemeinwohl.
Ein kluger Artikel, weil hier drei wichtige Stimmen
( Habermas, Cacciari und Prodi ) nebeneinander gestellt wurden, deren Positionen ich mich auch anschliessen kann. Eine zusätzliche Bemerkung: in einem anderen Zusammenhang habe ich jüngst wieder einige Dokumente über das Verhalten speziell der CSU gegenüber der griechischen Militärjunta gelesen. Während griechische Intellektuelle und Künstler auf Gefangeneninseln gefoltert wurden, haben sich einige einflussreiche CSU-Granden mit Ergebenheitsadressen gegenüber den Militärs übertrumpft. Wohlgemerkt, es waren ( und sind ) Repräsentanten und Publizisten einer Partei, die das ‚C‘ im Parteinamen führt. Der CSU waren immer alle Mittel recht, um ‚linke Politik‘ oder was sie dafür hielten, zu bekämpfen. Mir ist kein einziger Versuch bekannt, mit dem diese Partei ihre mehr als fragwürdigen aussenpolitischen Sympathien ( Mobutu, Apartheitregime in Südafrika, Salazar in Portugal, Almirante in Italien, Pinochet in Chile und eben die Militärjunta in Griechenland ) kritisch hinterfragt hat. Wie Habermas glaube auch ich, daß die Tsipras-Regierung Fehler gemacht hat. Die Zeit der kritiklosen Gesänge ‚Hoch, die internationale Solidarität‘ sind, jedenfalls für mich vorbei. Aber die arroganten Kampfparolen der politischen Rechten in Deutschland gegenüber ‚den Griechen‘ sind wirklich unerträglich. Und dann noch die knallharte Abschottungspolitik gegenüber den Flüchtlingen an den Küsten des Mittelmeeres! Europa wird immer mehr zu einem kalten Kontinent – und ein massgeblicher Teil der politischen Elite in Deutschland trägt eine große Mitschuld an dieser Entwicklung.
„Alle Seiten haben Fehler gemacht“ – neben Herr Tsipras vor allem Frau Merkel von der europäischen Hegemonialmacht (die diese Macht aber nicht nutzt – ja ist sie nun Hegemonialmacht oder ist sie es nicht?). So kommt man zu einem ausgewogenen Urteil.
Hätte ein von Frau M. 2010 durchgesetzter Schuldenschnitt (sie hätte ihn erst einmal gegenüber den anderen Gläubigerländern durchsetzen müssen – aber ein Hegemon kann das natürlich) etwas geändert? Das ignoriert die Tatsache, dass alle griechischen Regierungen hartnäckig daran festgehalten haben, ihren Wählern keine strukturellen Reformen zuzumuten, sondern den Lebensstandard im Land durch billige Kredite von außen zu finanzieren. Auch Syriza bisher nichts an ernsthaften Reformen eingeleitet und vor allem nicht versucht, die Wohlhabenden im Lande an den Kosten der Krise zu beteiligen; dass dies auf dem Rücken der Ärmeren geschieht, wird dann aber der Troika in die Schuhe geschoben. Kann man denn ernsthaft glauben, dass neue Geldzuflüsse ohne solche strukturellen Reformen zu Wachstum führen werden – Geld ist ja in der Vergangenheit in großen Mengen ins Land geflossen.
Der Glanz Europas verblaßt – in der Tat, aber doch nicht primär wegen neoliberaler Obsessionen von Merkel, sondern vor allem, weil die Regierungen in den meisten (Krisen-)Staaten, besonders jetzt auch wieder in Griechenland, die Verantwortung für ihre inneren Probleme auf die EU, auf Merkel u.a. schieben.
Die Zauberformel, die uns jetzt Habermas anbietet: Stärkung Europas durch Stärkung demokratisch legitimierter europäischer Zentralinstanzen, ist offensichtlich illusionär: alle weiteren Schritte in diese Richtung würden den antieuropäischen rechten Strömungen in den Mitgliedsstaaten weiteren Auftrieb geben. Ich weiß auch nicht, wie man Europa attraktiver machen kann, so aber auf jeden Fall nicht.
Warum die leichte Häme gegenüber der Feststellung, dass „alle Seiten Fehler machten“? Ist der Gedanke wirklich so schwierig, das ein Land gegenüber anderen Ländern Hegemonialmacht sein kann, ohne diese Macht im Sinne des „guten Hegemons“ zu nutzen? Der gute Hegemon eint, der schlechte spaltet. Auch zum Spalten hat er die Macht, aber er bringt die anderen Länder gegen sich auf. Deutschland hat dies erreicht, und zwar gründlich, zumindest in Südeuropa, wo ich es beurteilen kann. Das letzte kleine Beispiel, nicht spektakulär, aber in Italien aufmerksam registriert: Als Tsipras nach seiner Ankündigung des Referendums nochmals Verhandlungen anbot und sich die Regierungschefs der Eurozone zu einem letzten Treffen verabredet hatten, um die Antwort zu formulieren, nahm Angela Merkel im Alleingang die Antwort vorweg: Das komme natürlich vor dem Referendum nicht mehr in Frage. Der Rat wäre vermutlich zum gleichen Ergebnis gekommen, aber dass Merkel in dieser Weise die Entscheidung vorwegnahm, war nicht nur schlechter Stil. Es war auch ein kleines Beispiel dafür, wie sich ein schlechter Hegemon verhält.
Was Du über die Versäumnisse von Tsipras schreibst, sagt auch Habermas und wird von mir zustimmend referiert. Deshalb bin auch ich nicht dafür, gegenüber Griechenland einfach wieder den Geldhahn zu öffnen. Es muss auf den Deal hinauslaufen: Hilfe gegen Strukturreformen. Dass bisher alle griechischen Regierungen darauf verzichteten, dem Land strukturelle Reformen zuzumuten, mag richtig sein. Aber das Argument ist rückwärts gewandt. Denn was folgt daraus? Rausschmiss aus dem Euro, weil sie nun mal so sind? Das geht leider nicht so einfach. Oder das Land nur noch vor unerfüllbare Forderungen stellen? Die für Reformen nötige Luft zum Atmen (d.h. Handeln) muss man Griechenland schon geben. Lucrezia Reichlin, Ökonomie-Professorin der London Business School, sieht den Fehler des IWF von 2010 und auch von 2012 in der verweigerten Einsicht, dass es ohne Umschuldung nicht gehen werde. Und dass man das Problem verschob, indem man stattdessen auf eine Austerität setzte, welches „das soziale Kapital zerstörte, das zur Umsetzung der Reformen gebraucht wurde“.
Du schreibst: „Ich weiß auch nicht, wie man Europa attraktiver machen kann“. Eben.