Im Namen des Volkes

Dass sich in Italien viele Straftaten durch Verjährung erledigen, ist spätestens seit den diversen Jusstizaffären Berlusconis bekannt. Meistens konnte er sich dadurch aus der Schlinge ziehen, dass die ihm angelasteten Straftaten – von der Bestechung bis zur Steuerhinterziehung, von der Förderung der Prostitution Minderjähriger bis zum Kauf von Abgeordneten – verjährt waren.

Er leistete dazu selbst auch seinen politischen Beitrag, indem er 2005 in seiner Regierungszeit eine Gesetzesänderung durchbrachte, welche die – im europäischen Vergleich ohnehin kurzen – Fristen weiter reduzierte. Zu seiner persönlichen Freude und der vieler anderer Angeklagten.

Strafverfahren millionenfach eingestellt

In Italien, wie auch in anderen Ländern, orientiert sich die Verjährungzeit am Strafmaß, das für eine Straftat vorgesehen ist. Im Ergebnis sind die Regelungen jedoch sehr unterschiedlich. Hier zum Vergleich einige Beispiele für die in Italien und Deutschland geltenden Fristen:

Bei Straftaten, für die es eine lebenslange Höchststrafe geben kann, gibt es in Italien keine Verjährung; in Deutschland gilt eine Frist von 30 Jahren, nur Mord verjährt nicht. In diesem Fall ist das italienische Strafrecht also „strenger“ als das deutsche. Anders bei den sonstigen Delikten: Wenn für sie Höchststrafen von mehr als 10 Jahren vorgesehen sind, verjährt die Tat in Deutschland grundsätzlich nach 20 Jahren, bei Höchststrafen von mehr als 5 Jahren sind es generell 10 Jahre. In Italien gilt hingegen als Richtwert die tatspezifische Höchststrafe: Liegt diese z. B. bei 12 Jahren, verjährt die Tat nach 12 Jahren (wobei in bestimmten Fällen die Frist um ein Viertel des Strafmaßes verlängert werden kann). Im Strafrecht darf die Verjährungsfrist allerdings nicht weniger als 6 Jahre betragen (die Untergrenze in Deutschland liegt bei 3 Jahren).

Nach einer Statistik des Justizministeriums wurden zwischen 2005 (Jahr des Inkrafttretens des so genannten Ex-Cirelli-Gesetzes) und Ende 2014 fast 1,5 Millionen Verfahren wegen Verjährung eingestellt. Die Renzi-Regierung arbeitet schon seit längerem an einer Änderung in diesem Bereich, stößt aber dabei auf starke Widerstände auch in der eigenen Koalition, insbesondere beim „Nuovo Centro Destra“ von Innenminister Alfano.

Fristen sind nur Teil des Problems

Mindestens genauso gravierend wirken sich zwei weitere „italienische Spezialitäten“ des Verjährungsrechts aus.

In fast allen europäischen Ländern – auch Deutschland – wird mit Beginn und für die Dauer des Gerichtsverfahrens die Verjährung ausgesetzt, also gestoppt. Nicht so in Italien: hier läuft nach Prozessbeginn die Uhr einfach weiter, sogar auch nach einer Verurteilung in erster Instanz. Das führt dazu, dass Beschuldigte, die sich erfahrene (teure) Rechtsanwälte leisten können, die Prozessdauer mit immer neuen Anträgen und Verzögerungstricks in die Länge ziehen können. Damit möglichst vor Abschluss des Verfahrens die Verjährung eintritt. So geschehen im Fall Berlusconis, aber auch in anderen Fällen, bei denen vor allem Politiker, Unternehmer oder andere „prominente“ Beschuldigte auf der Anklagebank saßen.

Die zweite Regelung, die von vielen Juristen, von NGOs wie Transparency und auch vom Europäischen Gerichtshof als problematisch angesehen wird, betrifft den Zeitpunkt, von dem an die Verjährung läuft. In den meisten europäischen Ländern ist es der Moment, in dem ein Verdacht entstanden ist und Ermittlungen eingeleitet werden. In Italien hingegen ist es der Zeitpunkt „der Vollendung der Straftat“. Nun kann aber zwischen Vollendung der Straftat und ihrer Entdeckung durchaus längere Zeit vergehen. Gerade bei „komplexen“ Delikten wie Korruption, Kapitalflucht, Steuerbetrug oder Umweltvergehen können es sogar mehrere Jahre sein, die bei der Verjährung mitberechnet werden und so die Zeit verkürzen, die den Justizbehörden zur Verfügung steht. Eine Reform des Verjährungsrechts müsste also nicht nur die Fristen überdenken, sondern auch solche „systemischen“ Aspekte berücksichtigen.

Natürlich tragen auch die Überlastung der Gerichte und ineffiziente Justizverwaltungen dazu bei, dass es so häufig vor Ablauf der Verjährungsfrist zu keinem gerichtlichen Urteil kommt. Im Jahr 2014 trat die Verjährung in 80.000 von 132.000 Fällen sogar vor Eröffnung eines Strafverfahrens ein. Dabei fallen die vom Justizministerium ermittelten Daten regional sehr unterschiedlich aus. Auf nationaler Ebene beträgt der Anteil der Verjährungen gegenüber den abgeschlossenen Verfahren 8,6 %, aber die Zahlen schwanken zwischen einem „Spitzenwert“ von 34,3 % in Turin und von nur 0,4 % in Bozen.

Reformansätze

Die Parteien haben verschiedene Vorschläge zur Gesetzesänderung ausgearbeitet. Der Vorschlag der 5-Sterne-Bewegung geht am weitesten: Entsprechend der Praxis in den meisten europäischen Ländern will er das Laufen der Verjährungsuhr mit Beginn des Gerichtsverfahrens stoppen. Axel Bisignano, der jahrelang Staatsanwalt in Bozen war und ein vehementer Kritiker der aktuellen Regelung ist, meint allerdings, dieser Vorschlag habe den Nachteil, dass Beschuldigte dadurch möglicherweise der Willkür unterschiedlich schnell bzw. effizient arbeitender Richter ausgesetzt werden könnten. Bisignano favorisiert deshalb den „Kompromissvorschlag“ der PD, wonach mit Beginn des Strafverfahrens das Laufen der Verjährungsuhr wieder „ex novo“, d. h. bei Null beginnen soll. Er meint, dadurch könne eine Verlängerung der Fristen erreicht werden, die alle Beschuldigten gleichermaßen erfasst.

Als Tochter eines Juristen bin ich zwar für Themen der Rechtsstaatlichkeit sensibel, aber leider nicht besonders fachkundig. Eine fundierte Einschätzung der vorliegenden Vorschläge fällt mir daher schwer. Es ist leichter, Lücken zu erkennen, als Lösungen vorzuschlagen. Das überlasse ich lieber denjenigen, die vom Fach sind. Doch eins scheint mir auch als Laie evident: Der derzeitige Status quo erschwert die effektive Verfolgung von Straftaten gerade in für Italien besonders relevanten Bereichen: Korruption und Bestechung, organisierte Kriminalität, Schattenwirtschaft, Amtsmissbrauch in Politik und Verwaltung. Viele Vergehen bleiben schon wegen der Verjährung ungesühnt. Mit teilweise katastrophalen Folgen nicht nur für diejenigen, die dabei nicht zu ihrem Recht kommen, sondern auch für das allgemeine Rechtsbewusstsein. Eine Reform, die europäischen Standards entspricht, ist dringend notwendig.

2 Kommentare

  • Sven Sevens

    Ich denke, Ihnen ist ein inhaltlicher Fehler unterlaufen. Sie schreiben: „Die zweite Regelung, die von vielen Juristen, von NGOs wie Transparency und auch vom Europäischen Gerichtshof als problematisch angesehen wird, betrifft den Zeitpunkt, von dem an die Verjährung läuft. In den meisten europäischen Ländern ist es der Moment, in dem ein Verdacht entstanden ist und Ermittlungen eingeleitet werden. In Italien hingegen ist es der Zeitpunkt „der Vollendung der Straftat“.

    In Deutschland ist es genauso wie in Italien: Die Verjährungsfrist beginnt mit der Beendigung der Tat, also sobald die Tat gänzlich abgeschlossen ist und der Taterfolg eingetreten ist.

    Der wesentliche Unterschied ist die Unterbrechung der Verjährung, die Uhr bleibt in Deutschland also stehen. Hierzu schreiben Sie: „In fast allen europäischen Ländern – auch Deutschland – wird mit Beginn und für die Dauer des Gerichtsverfahrens die Verjährung ausgesetzt.“

    Tatsächlich wird in Deutschland die Verjährung aber schon vorher unterbrochen. Hier Beispiele:

    Unterbrechung der Verjährung bei erster Vernehmung des Beschuldigten oder bei Bekanntgabe, dass gegen diesen ermittelt wird,
    Unterbrechung der Verjährung durch Beauftragung eines Sachverständigen, wenn der Beschuldigte vorher vernommen oder ihm das Ermittlungsverfahren gegen ihn bekannt gegeben wurde,
    Unterbrechung der Verjährung bei richterlicher Beschlagnahme- oder Durchsuchungsanordnung,
    Unterbrechung der Verjährung bei Haftbefehl und Erhebung der öffentlichen Klage, des Hauptverfahrens oder Anberaumung einer Hauptverhandlung,
    Unterbrechung der Verjährung bei Erlass eines Strafbefehls oder der vorläufigen richterlichen Einstellung des Verfahrens wegen Abwesenheit sowie bei jeder Anordnung, die zur Aufenthaltsermittlung des Beschuldigten oder zur Sicherung von Beweisen oder zu einer Untersuchungshandlung im Ausland ergeht.

  • Marcella Heine

    Ja, Sie haben vollkommen recht, Danke für die Richtigstellung! Gerade wenn man sich – wie ich in diesem Fall – auf „fachfremdes Terrain“ begibt, sollte man bei den eigenen Recherchen doppelt genau sein. Aber gut, dass es fachkundige und aufmerksame Leser/innen gibt, die bei Bedarf dann für Klärung sorgen!

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