Unsere Lebenslüge, unsere Todeslüge
„Aber es kommen jetzt doch weniger“, ist ein Satz, den manche bei uns oder in Italien den Horrormeldungen der AfD oder der Lega entgegenhalten. Das Problem ist, dass er, gerade auch wenn er gut gemeint ist, uns das Blut in den Adern gefrieren lassen müsste. Er fragt nicht, warum „weniger kommen“.
Segens kurzes Leben
Dazu Marco Ratunno, ein Vertreter des UNHCR in Sizilien: „Leider haben wir in den letzten Monaten hier sehr viele Flüchtlinge ankommen sehen, die am Ende sind. Es sind wandelnde Gespenster, Frauen, Kinder, die nur noch aus Haut und Knochen bestehen. Bei den letzten Anlandungen hier sah ich viele, die es nicht mehr schafften, überhaupt auf Reize zu reagieren, zu sprechen, Erleichterung zu zeigen, dass sie hier noch lebendig ankamen. Ganz ohne Frage hat die verlängerte Verweildauer in den libyschen Internierungszentren die allgemeinen Bedingungen nochmals verschlechtert“.
Das Zusammenspiel funktioniert
Das Zusammenspiel zwischen den zuständigen europäischen Instanzen und einer Institution, die sich „libysche Küstenwache“ nennt, wird immer offensichtlicher – diese übernimmt die Schmutzarbeit und bringt die von ihr aufgegriffenen Flüchtlinge in die libyschen Lager zurück, Europa hilft. Dass z.B. italienische Marineschiffe Schlauchbooten mit Flüchtlingen den Weg abschneiden, bis die libyschen Schnellboote vor Ort sind, ist aktenkundig. Das Operationsgebiet der europäischen Marine wird zurückgenommen (auf nun 24 Seemeilen vor der italienischen Küste), während das Operationesgebiet der libyschen Küstenwache, die dafür von Italien mit Schnellbooten ausgerüstet wurde, ausgeweitet wird. In Gewässer hinein, die bisher „international“ waren. Es geschieht einvernehmlich, Europa toleriert es. Wie viele Bootsflüchtlinge so abgefangen werden, ohne überhaupt noch von Europa registriert zu werden, weiß niemand. Die Informationen, die uns noch über das Geschehen im Mittelmeer erreichen, verdanken wir den letzten beiden NGO-Schiffen, die noch im Mittelmeer operieren (Aquarius von SOS Méditerrannée, Seefuchs von Sea Eye). Wenn sie es schaffen, zur Stelle zu sein, wird oft in direkter Konfrontation mit den bewaffneten Libyern entschieden, ob die Bootsflüchtlinge auf ihre Schnellboote oder auf ein NGO-Schiff verfrachtet werden. Es kommt dann zu einer Art Selektion, wobei um jeden Flüchtling einzeln gefeilscht wird. Wer noch kräftig und gesund zu sein scheint, kommt aufs Schnellboot (und damit zurück in die lybischen Lager);wer krank, alt oder anfällig ist (wie Segen), „darf“ aufs NGO-Schiff (und damit nach Europa). Dass dabei ganze Familien auseinander gerissen werden: uninteressant. Oft beginnen die Libyer schon mit dem Zusammenknüppeln der wieder Eingefangenen, wenn sie noch in Sicht der NGO-Besatzungen sind (es sind ja „Illegale“). Was dann mit ihnen geschieht, kann man ahnen.
Das missachtete Refoulement-Verbot
Die Feststellung, dass „jetzt doch weniger kommen“, ist wahr und zynisch zugleich. Die Mittel, mit denen es erreicht wird, verstoßen gegen geltendes Recht. Mitte Februar erstellte der Wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestags ein Gutachten, in dem er die Abgeordneten daran erinnerte, dass die von den europäischen Staaten ratifizierte Genfer Flüchtlingskonvention in Art. 33 das sog. „Refoulement-Verbot“ enthält. Es besagt, dass kein Flüchtling in ein Land zurückgewiesen werden darf, in dem „sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit … bedroht sein würde“. Woraus das Gutachten erst einmal folgert, dass die Blockade von Flüchtlingsbooten durch quergestellte europäische Kriegsschiffe wohl rechtwidrig war. Dass dies auch für die gesamte Aufrüstung der libyschen Küstenwache gelten könnte, deren Ziel es ist, die im Meer aufgegriffenen Boots-Flüchtlinge wieder in libysche Lager zurückzubringen, erwähnt es nicht. In der Bundestagsdebatte, die 14 Tage später stattfand, erklärte der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), dass die Kooperation mit der libyschen Küstenwache, an der sich auch die Bundesrepublik beteiligt, „unser bescheidener Beitrag“ sei, um „die Welt ein bisschen besser und humanitärer“ zu machen. So kann man aus schwarz weiß machen.
Grenze der Empathie
Hinter dem rechtlichen Problem steckt das moralische. Kann man es sich wirklich leisten, von ihm abzusehen? Immerhin gab Michael Roth in der gleichen Debatte zu, dass bei der Kooperation mit der libyschen Küstenwache „menschen- und völkerrechtlichen Standards“ keine Geltung haben. EU-Präsident Juncker drückte es im vergangenen November drastischer aus: Er könne „nicht mehr ruhig schlafen bei dem Gedanken, was jenen Menschen passiert, die ein besseres Leben gesucht und in Libyen die Hölle gefunden haben“. Ich füge hinzu: Zumal ihnen diese Hölle jetzt in europäischem Auftrag bereitet wird, d. h. in unser aller Namen. Es sind Abgesandte der EU, welche die libysche Küstenwache aufrüsten, mit Geld, Schnellbooten und Training, angeblich um sie zur „Seenotrettung“ zu befähigen, aber sehr wohl wissend, dass sie nicht nur mit den Netzwerken der Schlepper, sondern auch mit den Milizen verflochten ist, die mit den Lagern ihr Geschäft betreiben. Sie nennt sich „Küstenwache“, aber „rettet“ Flüchtlinge, um sie wieder den Lagern zuzuführen.
Ich weiß, dass Europa seine Grenzen nicht einfach öffnen kann – und dass auch in diesem Beitrag Vorschläge für Auswege fehlen. Aber die Redlichkeit gebietet die Feststellung: Das Entsetzliche funktioniert, um das Flüchtlingsproblem wird es schon stiller. Die Fähigkeit zur Empathie ist eine noble menschliche Eigenschaft, aber sie braucht den Menschen, der leidend vor uns steht. Wird er dem Blick entzogen – darauf konzentriert sich seit einigen Jahren die Politik –, erlischt diese Fähigkeit. In den libyschen Lagern wird geschlagen, misshandelt, vergewaltigt und getötet, auch heute, auch jetzt. Aber das sind Worte auf dem Bildschirm, Worte auf Papier. Was zählt: „Es kommen weniger“.
Danke für diese ernüchternde Zustandsbeschreibung, die zeigt, was wir für unser gestohlenes Wohlbefinden zu tolerieren und politisch zu unterstützen bereit sind. Die Empathie mit den hilfesuchenden Menschen mag so auf der Strecke bleiben – die historische Schande bleibt uns.