Auf der Suche nach der verlorenen Chance

Man muss Salvini verstehen. Auch wenn es schon 9 Monate her ist: Es gab den Moment, in dem für ihn die ganze Macht in Reichweite war. Bei der Europawahl im Mai 2019 kam die Lega auf 34,3 %, von der 5SB, ihrem Bündnispartner, die bis dahin im Parlament über doppelt so viele Sitze verfügte, war nur noch die Hälfte (17 %) übrig, und gemeinsam mit den beiden anderen Rechtsparteien, Berlusconis Forza Italia und Melonis Neofaschisten, die beide Salvinis Führungsanspruch akzeptierten, gingen über 50 % an den Rechtsblock. Es waren zwar nur die Prozentzahlen der Europawahl, aber alle Umfragen sprachen dafür, dass eine nationale Neuwahl zumindest das gleiche Ergebnis hätte – „zumindest“ heißt, dass die Lega bei einer solchen Wahl vielleicht sogar auf 40 % gekommen wäre. Die absolute Mehrheit war diesem Rechtsblock sicher.

Die Gelegenheit

Der Plan, der die Lega zu einem solchen Kantersieg führen sollte, war aussichtsreich: Bei einer Parlamentsauflösung im Sommer 2019 hätte die nationale Neuwahl im Herbst stattfinden müssen, also zu einem Zeitpunkt, in dem auch der italienische Haushaltsplan für 2020 auf der Tagesordnung stand. Für ihn hatte die Lega einen Vorschlag in der Schublade, der den Italienern das Blaue vom Himmel versprach – und bewusst alle Brüsseler Auflagen über den Haufen warf. Das Veto aus Brüssel war eingeplant, um die nationale Wahl zum Plebiszit darüber zu machen, ob Salvini gegenüber Brüssel auf Konfrontation gehen solle. Neben der Migrantenfrage, so das Kalkül, hätte sich Salvini damit den zweiten Trumpf für einen Massenkonsens verschafft, mit dem er nicht nur Italien aufrollen wollte, sondern – vielleicht – auch die EU in die Knie zwingen konnte.

Anfang August wollte Salvini die Gelegenheit beim Schopf ergreifen. Nachdem er seinen Misstrauensantrag gegen Conte und das eigene Bündnis mit der 5SB eingebracht hatte, verriet er, mit welcher Erwartung: dass ihn nun das Volk mit „allen Vollmachten“ („pieni poteri“) ausstatten werde. Die Erinnerung an die Regimewechsel des 20. Jahrhunderts, die ebenfalls durch die Übertragung „aller Vollmachten“ eingeleitet wurden, war gewollt.

Dass dieser Plan dann doch misslang, ist der Hintergrund für alles, was folgte. Salvinis Fehler war die Erwartung, durch seinen Misstrauensantrag quasi automatisch Neuwahlen auszulösen, weil er nicht glaubte, dass mit dem in beiden Kammern vorhandenen Personal noch eine alternative Regierungsbildung möglich war, die ja nur auf der Grundlage eines Bündnisses der 5SB mit der PD möglich war. Er ließ sich von den Teilen der PD täuschen, die bis dahin immer wieder ein Bündnis mit der 5SB ausgeschlossen hatten. Salvini fiel aus allen Wolken, als es dann doch zustande kam, mit einem Conte als Regierungschef, dem er und Di Maio einst nur die subalterne Rolle eines Notars ihres Regierungsvertrags zugedacht hatten.

Abstieg

Dass dies ein entscheidender Wendepunkt in Salvinis politischer Karriere sein konnte, war im August 2019 noch nicht absehbar – seine Gegner schienen nur eine Atempause gewonnen zu haben. Anfangs glaubte Salvini, dass dies neue Bündnis, das seinen Durchmarsch verhindern sollte, nach wenigen Monaten implodieren werde. Allzu offensichtlich war es ein Bündnis der auf der Strecke Gebliebenen: einer PD, die weiterhin bei 20 % stagnierte, und einer 5SB, deren imposante numerische Stärke in beiden Kammern die Europawahl als Potemkinsches Dorf enthüllt hatte. Salvinis Popularität schien ungebrochen. Seine Auftritte an den Stränden blieben Bäder in der Menge: Die Männer rissen sich um gemeinsame Selfies, die älteren Damen streichelten und küssten ihn. Und es enthielt mehr als ein Körnchen Wahrheit, wenn er auf die Frage, warum er noch kein Ministerpräsident sei, obwohl ihn das Volk doch wolle, nur zu antworten brauchte: „Die haben Angst vor mir“.

Als im Herbst die römische Festung immer noch nicht genommen war, verhielt sich Salvini wie der Feldherr, der sich immer noch auf der Siegerstraße befindet, aber auf ein letztes Hindernis stößt: Er veränderte seine Taktik, um das gleiche Ziel zu erreichen. Nun lautete seine Parole: Dann mache ich eben die anstehenden Regionalwahlen zu den Rammstößen, die die römische Festung zum Einsturz bringen. Der Plan schien aufzugehen: Im Oktober fiel ihm das „rote“ Umbrien wie eine überreife Frucht in den Schoß. Da beging Salvini seinen zweiten Fehler, indem er die Regionalwahl, die Ende Januar in der Emilia Romagna anstand, zur Entscheidungsschlacht erklärte. Was er unterschätzte, war die Popularität des PD-Regionalfürsten, und was er nicht voraussah, war die mobilisierende Wirkung einer Bewegung, die niemand auf der Rechnung hatte: die „Sardinen“. Nun half es Salvini auch nicht mehr, dass die Rechte die Wahl in Kalabrien, die gleichzeitig stattfand, haushoch gewann, denn es war die andere Wahl, die er zur „Entscheidungsschlacht“ erklärt hatte. Womit er der römischen Regierung eine weitere Atempause verschafft hatte.

Dann veränderte Mitte Februar die Pandemie noch einmal alles. Denn sie schlug Salvini seinen zentralen Politikmodus, den ständigen Wahlkampf auf Straßen und Plätzen, aus der Hand, und rückte sein Migranten-Thema an den Rand. An die Stelle der Bootsflüchtlinge trat das Corona-Virus, und die Karawane der Armeelaster, die im nächtlichen Bergamo die Särge der Corona-Toten zu den Krematorien fuhren und eine tausendmal realere Gefahr zeigten.

Eine Politik gerät ins Schleudern

Die Lega hat das Parlament „besetzt“

Salvinis Erfolgsrezept war bisher die klare Kante, auch wenn sie über Leichen geht. Bei der Pandemie verlor er sie. Beim Versuch, im öffentlichen Blickpunkt zu bleiben, wird er fahrig. Nach dem ersten Corona-Ausbruch in der lombardischen Kleinstadt Codogno verkündet er, man müsse „sofort mit schärfsten Kontrollen alle Grenzen schließen“. Wenige Tage später folgt die erste Kehrtwende: Öffnung aller Grenzen, damit die Touristen ins „schönste Land der Welt“ kommen. Als Anfang März die Lage dramatisch wird, verschwindet er von der Bildfläche, löscht seine bisherigen FB-Einträge und verlangt „Alles schließen, um gesünder neu anzufangen“. Wo die „Wissenschaft nicht ausreicht“, helfe nur das „unbefleckte Herz Marias“. Als sich jedoch Nachrichten häufen, dass sich die Wirtschaft beklagt und das Volk ungeduldig wird, erneute Kehrtwende. Im Senat erklärt er es zu einem „Desaster, wenn wir erst als letzte in Europa alles wieder aufmachen würden“. Seitdem ist es sein Mantra, Italien schnellstmöglich aus dem lockdown zu befreien, den ihm die „Regierung der Angst“ auferlege. Fehlende Konturen ersetzt Übertrumpfen: Wo die Regierung Milliarden verspricht, um in der Krise Unternehmen und Beschäftigte über die Runden zu bringen, fordert er das Doppelte, Drei- und Zehnfache. Außerdem Steuererlass, Amnestie für alle Steuer- und Bausünder und Lizenz für grenzenloses Schuldenmachen. Als seine Umfragewerte trotzdem sinken, besetzt er am 29. April mit 30 weiteren Lega-Abgeordneten „auf unbegrenzte Zeit“ beide Kammern des Parlaments, um den Italienern „endlich wieder eine Stimme zu geben“. Denn das Volk ist er. Am nächsten Morgen bricht er die „unbegrenzte“ Besetzung schon wieder ab, „um den Bediensteten des Parlaments einen schönen 1. Mai zu ermöglichen“.

Fazit

Salvinis Abstieg ist langsam, aber stetig. In den Umfragen ist die Lega immer noch stärkste Partei, aber verliert zunehmend ihre Übermacht und ist jetzt auf knapp 27 % abgerutscht. Langsam kommt sie in Sichtweite der PD, die immer noch bei gut 21 % liegt, obwohl sie inzwischen 3 % an Renzis Abspaltung Italia Viva verlor.

Aber in der Summe dominiert die Rechte weiter: Berlusconis Forza Italia stagniert zwar bei etwa 7 %, während Melonis Fratelli d’Italia gewinnen, was Salvini verliert: Sie verdoppeln ihren Anteil auf 14 %. In der Addition liegt der Rechtsblock weiterhin bei knapp 50 %, auch wenn sich die inneren Kräfteverhältnisse verändern: Die Meloni muckt schon öfter gegen  Salvinis Führungsanspruch auf, Berlusconi erinnert sich gelegentlich, dass er auf europäischer Ebene noch zur EVP-„Familie“ gehört.

Gleichzeitig ist die Hoffnung, dass die „Sardinen“ der PD die Chance zu einer wundersamen Verjüngung bieten, wieder zerstoben. In Gestalt der 5SB bleibt sie auf einen Partner angewiesen, dessen Flügelkämpfe und neurotischen Existenzängste die Regierung an einem klaren Reformkurs hindern, worunter auch ihr eigenes Profil leidet. Die Zukunft bleibt steinig.

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