Putin und der Krieg des Schicksals

Vorbemerkung der Redaktion: Seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs beschäftigen sich die Kommentatoren mit der Frage, warum ihn Putin eigentlich begonnen hat. Auf die anschließende Frage, warum er ihn gerade jetzt vom Zaun gebrochen hat, gibt es schon eine plausible Antwort: Er begann mit seiner Vorbereitung, als er annehmen konnte, dass vor allem die USA und mit ihnen auch die europäischen Alliierten nach dem überstürzten Rückzug aus Afghanistan besonders schwach und handlungsunfähig seien. Zur Frage jedoch, warum er ihn überhaupt begann, sind die Meinungen immer noch geteilt, auch in den Ländern, die heute den ukrainischen Abwehrkampf unterstützen. Die These, dass hieran auch der Westen ein gerüttelt Maß an „Schuld“ trage, fand Anhänger, wobei insbesondere auf die Ausweitung der Nato verwiesen wird, zu der es nach 1989 kam und durch die sich Russland eingekreist gefühlt habe. Neuere Untersuchungen über die innere Entwicklung Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion und den Aufstieg Putins tragen dazu bei, wiederum die These von der westlichen Haupt- oder zumindest Mitschuld zu relativieren (siehe z. B. Masha Gessen, „Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor“, und Karl Schlögel, „Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“), indem sie den Blick auf das Aufstieg Putins zum Alleinherrscher und die imperialistische Ideologie lenken, die in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zur Staatsraison wurde.

Der folgende Artikel von Ezio Mauro, den wir der „Repubblica“ vom 13. Juni unter dem obigen Titel entnehmen und im Folgenden fast ungekürzt übersetzen, liefert dazu ein weiteres Mosaiksteinchen – er untersucht, wie Putin neuerdings die Legitimität eines Angriffs begründet, der an die Stelle des Völkerrechts das Recht setzt, sich jederzeit zurückholen zu können, was einem angeblich irgendwann im Laufe der Geschichte „gehörte“. Und der sich damit das Recht herausnimmt, alle zwischenzeitlich entstandenen hinderlichen Entwicklungen zu ignorieren, die zur Entwicklung eines eigenen Identitätsbewusstseins führen konnten. Dem angegriffenen Land spricht er genau die Souveränität ab, über sein Schicksal zu entscheiden, die er für sich selbst in Anspruch nimmt.

Dabei lässt sich Mauro einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen dem Schweden-Krieg Peters des Großen und Putins Ukraine-Krieg entgehen: Peters Krieg richtete sich gegen eine ausländische Macht, die über einen Teil des europäischen Russlands herrschte, während sich Putins Krieg gegen ein Land richtet, dessen Souveränität, um dessen Erhalt es jetzt kämpfen muss, einst von Russland selbst anerkannt wurde. Ein Detail, das Russland dadurch unter den Teppich zu kehren sucht, dass es immer wieder die Ukraine zum „Stellvertreter“ des Westens erklärt, mit dem es in Wahrheit diesen Konflikt austrage, und damit der Ukraine abspricht, überhaupt ein selbstständiges völkerrechtliches Subjekt zu sein..

Der Hoffnung, sich durch ein genaueres Verständnis der russischen Kriegsgründe auch einer möglichen Konfliktlösung zu nähern, gibt Mauros Analyse aber wenig Nahrung, im Gegenteil. Dies gilt auch für die Begleitmusik, die z. B. ein Medvedev beisteuert, wenn er den Hass gegen den Westen predigt, der zum „Verschwinden“ gebracht werden muss.

„Die militärische Ukraine-Aktion ist keine ‚spezielle Operation‘ mehr. An ihrem hundertsten Tag ist die Invasion samt folgender Besetzung eine historische Mission der Wiedereroberung geworden, um das verlorene Schicksal Russlands und seines Volks wiederherzustellen, das durch eine Verschwörung der Geschichte sein Imperium verlor. Wladimir Putin hat dies am vergangenen Donnerstag (also am 9. Juni, A. d. R.) direkt zu verstehen gegeben, als er in Moskau – sicherlich nicht zufällig – eine Ausstellung der legendären Unternehmungen von Peter dem Großen eröffnete, der zwei Jahrzehnte lang mit dem ‚Großen Krieg im Norden‘ gegen Schweden beschäftigt war. Er ist das explizite Vorbild des Kreml-Führers,  der schon mehr als die Hälfte der Jahre des Gründers von Sankt Petersburg regiert hat.

Zar Peter der Große

Putin nimmt Bezug auf diesen Konflikt, indem er daran erinnert, dass Peters Neugründung einer Hauptstadt an der Newa auf einem … Territorium stattfand, dass damals niemand als zu Russland gehörig anerkannte, sondern in dem alle einen Teil Schwedens sahen. Aber Putin führt eine Begründung ins Feld, die dieses übliche Verständnis und von aller Welt anerkannte und akzeptierte Schema überschreitet, indem er es im Namen einer Art geopolitischen Erstgeburtsrechts annulliert: ‚Die Slawen haben seit undenklichen Zeiten diese Gebiete bewohnt‘. Demzufolge zählt alles nicht, was dann folgte,  es konnte keine eigenen Rechte, Traditionen, Kulturen und Zugehörigkeiten mehr schaffen. Es sind nur die beiden sich berührenden Extrempunkte der Geschichte, der Anfang und das Ende, die zählen und wieder zueinander streben. So wird die heutige Politik zum Instrument der Eroberungen von gestern, die sie zu Ende bringt und sich dabei nur auf das legendäre Mandat berufen muss, das ihr zu Anfang erteilt wurde und sie seitdem für alle Zeiten verpflichtet.

In jener Zeit, erklärt Putin mit implizitem Bezug zur Gegenwart, meinten alle, dass Peter der Große Schweden etwas wegnähme. ‚Aber er hat dem Land nichts weggenommen, sondern nur wieder die Kontrolle übernommen. Er holte sich nur zurück, was Russland gehörte, und stärkte damit das Land.‘ Woran für den russischen Präsidenten die folgenden dreihundert Jahre nichts verändert haben. ‚Unsere Aufgabe ist die Wiederaneignung und die Stärkung. Da gibt es keinen Mittelweg: ein Land ist souverän, oder es ist eine Kolonie‘.

Damit stehen wir wieder vor einer Putinschen Theorie der Macht, neueste Fassung. Die letzten Ereignisse haben uns gelehrt, dass der russische Führer gewohnt ist, die Ankündigung seiner strategischen Absichten erst einmal zur Theorie zu machen, bevor er sie umsetzt.

Es ist also ratsam, über diese Ankündigungen nachzudenken, die geschaffen wurden, um (präventiv und a posteriori) die Kraftproben und Willkürakte zu legitimieren, die von einer Macht verübt werden, welche sich von jeder rechtlichen, moralischen, politischen und diplomatischen Bindung befreit sieht, von allen internationalen Verpflichtungen, von jeder gemeinsamen Anerkennung einer Grenze. Russland – gestern mit Peter, heute mit Putin – nimmt niemandem etwas weg, es holt sich nur zurück, was ihm gehört.

Diese Rückdatierung des Rechts ist natürlich einseitig und willlkürlich, denn sie wählt den Zeitpunkt, in dem die Geschichte beginnt, nach eigenem Belieben aus, und macht ihn so aus Gründen der Opportunität zum universellen Bezugspunkt. Und nicht nur das: In der Putinschen Doktrin steckt auch der moralische Anspruch auf die imperiale Aktion zur Wiederherstellung vergangener Größe, denn ‚Zurückholen‘ ist etwas anderes als ‚Erobern‘ und nimmt damit Bezug auf eine zuvor bestehende, aber verblasste Ordnung und verlorene Macht. Und zwar einfach dadurch, dass der Lauf der Geschichte, der außer ‚Kontrolle‘ geraten war, wieder in die richtige Bahn gelenkt wird.

Also ‚zurückholen‘ und ‚stärken‘. In der Überzeugung, dass die Nationen nur dann leben und voranschreiten können, wenn sie die eigene Souveränität in der Dimension entfalten, die das Schicksal den auserwählten Völker zuwies, um Geschichte zu schreiben. Jeder Verzicht auf diesen politischen Raum und diese Berufung zur Autorität ist nicht nur ein Zurückweichen, sondern ein Verrat am eigenen Volk, ein Verzichten, ein Abdanken. Es ist das Schicksal, das die Rolle und die Funktion der Länder bestimmt. Die Politik kann da nur gehorchen, indem sie die jeweils spezifische Mythologie der Nation übernimmt und sich ihrem Plan anpasst. Alles andere sind unproduktive Kompromisse, auch wenn sie auf der internationalen Bühne wohlwollend registriert und in die Landkarten übernommen werden. Denn entweder ist die Souveränität vollständig, frei und unbegrenzt, oder sie ist ein Betrug. Im Grunde kann die Souveränität nur Souveränismus sein, das heißt die Ideologie ihrer selbst, die in der Gegenwart umgesetzt wird.

An diesem Punkt versteht man auch die Invektive, die Dimitrij Medvedev in Telegram vom Stapel ließ, denn der Expräsident Russlands und Ex-Chef der Regierung verfügt heute über kein institutionelles Podium wie Putin, weshalb er seine Kanzel in den social media aufstellen muss. Aber was zählt, ist die Substanz, die dem von Putin vorgegebenen Rahmen das Versprechen eines ewigen Fluchs gegen den Westen hinzufügt: ‚Ich hasse sie. Es sind degenerierte Bastarde. Sie wollen Russlands Tod. Solange ich lebe, werde ich alles tun, um sie zum Verschwinden zu bringen.‘ Es ist der offensichtliche Versuch, die territoriale wie auch politische Dimension des Ukraine-Kriegs zu überschreiten. Es betritt den Boden populärer Massen-Emotionen, wo ausdrücklich die Kategorie des Hasses angerufen wird, als Garantie und Verpflichtung für das ewige Engagement, die totale Mobilisierung, das auch moralische Einbezogen-Werden. Es ist wie die Beglaubigung eines radikalen Andersseins, einer definitiven Trennung, aus der es kein Zurück mehr gibt.

Hier wird Russland zum Hass aufgerufen. Der Gegner ist nicht mehr ein Land, die Ukraine, sondern der Westen, d. h. die andere Hälfte der Welt, die als korrupter Wüstling abgestempelt wird, der die wiedererstehende Macht Moskaus ersticken will. Es ist der posthume Versuch, einem Krieg, der als künstlich erzeugter Blitz entstand, aber jetzt lange dauern könnte, nachträglich Wurzeln im Gefühl und im Ressentiment des Volks zu verschaffen.

In der abschließenden Drohung gegen einen Feind, der ‚verschwinden‘ muss, wird schließlich eine doppelte Dynamik erkennbar, welche die obere russische Nomenklatura heute und morgen erfasst: Sich in der Gegenwart Putin anzupassen und ihn dabei sogar in seiner antiwestlichen Rhetorik zu überbieten, und die Vorwegnahme einer Führungsrolle, die dem in naher Zukunft zu erwartenden Niveau der Auseinandersetzung entspricht, wenn dafür die Zeit gekommen ist…“

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