Enrico Letta: Die Linke hat die soziale Gerechtigkeit vergessen

Vorbemerkung der Redaktion: Staatspräsident Mattarella hat die gegenwärtige Regierung als Notstandsregierung deklariert, und dementsprechend betrachten die sie tragenden Parteien den gegenwärtigen Zustand als ein Interregnum, in dem ihr heutiges Handeln immer auch von ihrem Blick auf die Zeit danach mitbestimmt wird. Wie wir schon berichteten, bastelt Salvini, der wohl inzwischen seine Hoffnung auf vorzeitige Neuwahlen noch im nächsten Jahr aufgab, an einer Fusion mit den Resten von Berlusconis Forza Italia, die ihn gegenüber seiner Konkurrentin Meloni wieder in Vorteil bringen würde. Währenddessen arbeiten die beiden großen Parteien, die „Conte2“ getragen hatten, mit viel „Selbstkritik“ an einer neuen Standortbestimmung: Für die 5-Sterne schreibt Conte eine Art Grundsatzprogramm, wozu sie  Di Maio Selbstkritik in Sachen Justiz beisteuert, und von ihr spricht auch Enrico Letta, der neue Generalsekretär der PD, als deren Subjekt er aber nicht sich, sondern die europäische Linke insgesamt meint.   

Am 31. Mai berichteten wir („Gegenwind für Draghi, diesmal von links“),  dass Letta das sozialpolitische Profil der PD stärken will, auch auf die Gefahr hin, nicht mehr Draghis „Musterpartner“ zu sein. Jetzt gibt es eine Veröffentlichung, die einen Einblick in seine dahinter stehenden strategischen Überlegungen gewährt: die Vorankündigung eines gerade erschienenen Buchs, das den (etwas seltsamen) Titel „Anima e Cacciavite“ trägt, in dem er sein Konzept von guter Politik darstellt und die wir im Folgenden auszugsweise übersetzen. Wobei „Anima“ den idealen Antrieb meint, an dem diese Politik festhalten muss und der mit dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit gleichgesetzt werden kann, und „Cacciavite“ den Schraubenzieher, den die Politik zur Feinjustierung braucht. Dass Letta hier den Begriff „Anima“ einführt, dürfte ein Tribut an seine linkskatholischen Wurzeln sein, die auch bei seinem Bezug auf den französischen Philosophen Emmanuel Mounier sichtbar werden, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Vereinbarkeit von Christentum und Sozialismus verkündete.

Vor allem schließt hier Letta an die aktuelle Diskussion über die europaweite Krise der Sozialdemokratien an. In Deutschland wird spätestens seit Andreas Reckwitz („Gesellschaft der Singularitäten“) ihre Ursache in der globalisierungsbedingten Polarisierung der Mittelklasse gesehen, und im Fehler der Sozialdemokratien, sich allzu schnell vor allem zum Sprachrohr der neuen „kosmopolitischen“ Mittelschicht gemacht zu haben – mit der Gefahr, dabei den der sozialen Rückschritt der Globalisierungsverlierer aus den Augen zu verlieren. Wobei die Sozialdemokratien nach Ansicht Lettas dem Paradigma des fahrenden Zuges auf den Leim gingen, bei dem alles auf die Stärke der Lokomotive ankomme. Was er durch die Beobachtung ergänzt, dass zu den Privilegien der „Kosmopoliten“ ja auch die Chance gehöre, sich persönlich vom Schicksal ihres Landes abkoppeln zu können.

Um dann den Appell, nicht die „Letzten“ aus den Augen zu verlieren,  mit dem Argument zu untermauern, dass es auch den ganzen Zug (sprich das demokratische System) und die Lokomotive (sprich Führungsschicht) trifft, wenn die hinteren Waggons entgleisen. Womit er dann letztlich doch an die Vernunft und soziale Verantwortung derer appelliert, denen er gerade bescheinigt hat, sich in die kosmopolitische Indifferenz verabschieden zu können.

Auszüge aus Lettas Vorankündigung (die er am 26. 5. in der „Repubblica“ veröffentlichte):

Die Verblendung der progressiven Eliten

„In den letzten Jahren habe ich gedacht und geschrieben, dass einer der tiefsten Gründe für die Krise der europäischen Eliten, insbesondere der progressiven Parteien, die verbreitete Neigung ist, die Erfahrung der sozialen Benachteiligung gering zu schätzen, den sozialen Konflikt als Blendwerk des 20. Jahrhunderts abzutun und Ungleichheiten als einen scheinbar geringen Preis dafür zu sehen, dass die Chancen der Globalisierung und der Öffnung scheinbar unbegrenzt sind.

Das war unsere historische Verblendung, für die wir alle Selbstkritik üben müssen. Erstens weil wir damit durchgehen ließen, dass eine Antwort auf legitime Schutzbedürfnisse das exklusive Vorrecht der populistischen Rechten sei. Zweitens weil wir, fast als ob wir uns des Ausdrucks ‚soziale Gerechtigkeit‘ schämten, den Fortschrittsgedanken selbst aufgaben, und dabei übersahen, dass es in unserer Umgebung zum Rückschritt kam. Weniger Arbeit, weniger Wachstumschancen, weniger Hoffnung, weniger Kinder, weniger Empathie gegenüber den Schwierigkeiten, weniger Solidarität mit den Letzten und Verzweifelten.

Gerade heute, wo sich alles beschleunigt hat, müssen wir schnell die verlorene Zeit wieder aufholen und die Verringerung der Ungleichheiten und die Nähe zu den persönlichen und gemeinschaftlichen Bedürfnissen zum Zentrum unseres politischen Handelns machen. Was bedeutet es sonst, „progressiv“ zu sein? Wo ist die Anima? … Letzten Endes, sagt Filippo Andreatta (Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bologna, AdR), ‚bleiben es immer die gleichen Feinde, die zu besiegen sind…: Armut, Privilegien, Vorurteile, Angst. Es sind immer noch die gleichen Feinde wie die des Risorgimento (der Einigungsprozess Italiens im 19. Jahrhundert, AdR), der Resistenza, der Verfassung‘.

Die historischen Epochen wandeln sich, aber unsere Mission, unsere Anima muss die gleiche bleiben. Wenn wir demjenigen, der Anpassungsschwierigkeiten an den ständigen Wechsel hat, nicht zeigen können, dass sich die Politik genau darauf konzentriert, ein nicht traumatisches Zusammenleben mit diesen Feinden zu ermöglichen, wird das Weiterkommen immer schwerer. Es ist nicht leicht, dafür die Instrumente, die Lösungen oder auch nur die richtigen Worte zu finden. Was wir mit Sicherheit ändern müssen, sind uns selbst, im Kopf und vielleicht auch im Herzen…“

Das gescheiterte Paradigma von der Lokomotive und den Waggons

„Heute besteht die wahre Herausforderung darin, ‚die Angst des 21. Jahrhunderts‘ zu besiegen. Für diesen Paradigmenwechsel, der eher emotional als kulturell oder politisch sein muss, müssen wir uns auf eine ernsthafte Diskussion des gescheiterten ‚Modells der Lokomotive und der Waggons‘ einlassen. Um zu verstehen, dass dieses Konzept, das manchmal in bester Absicht vertreten wurde, am Ende gescheitert ist, besonders in Italien und in Europa, und dabei zu Verzerrungen und Unsicherheiten führte, deren radikale Korrektur viel Zeit, vielleicht Jahre brauchen wird. Die Lokomotive ist bekanntlich der wichtigste Teil des Zuges, und damit der Teil, an dem zu arbeiten und in den zu investieren ist. Wenn die Lokomotive stark ist, ist die Hauptsache geschehen. Je stärker die Lokomotive ist, desto besser zieht sie den Rest des Zuges hinter sich her. Dieses Paradigma wurde in den letzten drei Jahrzehnten mit aller Konsequenz und manchmal auch Gläubigkeit durchdekliniert, sowohl bei den Modellen der ökonomischen Entwicklung (vor allem auf territorialer Ebene), als auch bei den innergesellschaftlichen Verhältnissen. In Italien vielleicht noch mehr als anderswo…

Den Einwand (gemeint ist offenbar: gegen die Kritik dieses Modells, AdR) kenne ich allzu gut. In einer komplexen Gesellschaft – heißt es – gibt es interne Umverteilungsmechanismen und Sicherheitsnetze, die den Zurückbleibenden schützen. Dies hat lange – wenn auch nur partiell – gestimmt. Aber heute nicht mehr. Wenn du heute Geld hast, hast du in der ganzen Welt mehr Chancen als früher. Du kannst dein Kapital ganz legal außer Landes schaffen und den steuerlichen Sitz deiner Aktivitäten ins Ausland verlegen. Du kannst dich entscheiden, physisch oder auch nur juristisch ganz einfach deinen Standort zu wechseln. Es gibt Länder, die sogar ihre Staatsbürgerschaft anbieten und Himmel und Hölle dafür in Bewegung setzen, dass du deine Steuern bei ihnen bezahlst. Mit anderen Worten: Wer ökonomisch im Vorteil ist, hat das Privileg, sein individuelles Schicksal von dem seines Landes abtrennen zu können. Er kann sich retten, auch wenn das Land untergeht. Das wird vor allem von Italien gesagt, aber es gilt auch für viele andere Demokratien, die sich nicht zufällig ebenfalls in der Krise befinden. Es ist die unmittelbarste Folge einer Globalisierung, die eine neue Weltelite hervortreibt, die sich gegenseitig Chancen einräumt, für die es keine Vorläufer gibt.“

Appell an die Privilegierten

„Diese globale Elite ist breiter und vielfältiger als die, die sich noch mit dem einstigen Kosmopolitismus identifizieren ließ. Aber sie ist immer noch Elite: in der Gesellschaft in der Minderheit, aber beim Eigentum und der Verfügung über finanzielle Mittel in der Mehrheit. Das Problem ist nicht nur, dass sich diese globale, kosmopolitische und gebildete Elite immer mehr vom eigenen Land abzutrennen droht, sondern sich gegen dies Land verteidigt, statt sich dem Problem zu stellen, wie es zu seiner Rettung beitragen kann.

Mit Sicherheit entzieht die Fortsetzung und Verewigung dieser Ungleichheiten unseren Gesellschaften Kraft und Vitalität. Das erfahren alle, nicht nur die Letzten, und das müsste eigentlich die Eliten, die Lokomotive, davon überzeugen, dass der einzig gute Weg zu einer guten Geschwindigkeit des Gesamtzuges darin besteht, dass die Verminderung der – alten und neuen, sozialen und territorialen, generationalen und geschlechtlichen – Ungleichheiten nicht nur eine sakrosankte Frage sozialer Gerechtigkeit ist, sondern auch dem ganzen Land nutzt, beginnend mit seiner Führungsschicht. Denn wenn der Zug entgleist, hat dies ernste Folgen für alle, und dann stehen nicht die Privilegien eines Teils auf dem Spiel, sondern das Überleben des gesamten demokratischen Systems, wie wir es im vergangenen Jahrhundert erfahren haben.“

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