Es war einmal Europa
Vorbemerkung der Redaktion: In der Welt ist Deutschland ein kleines Licht, in Europa ein Hegemon – der zumindest von seinen europäischen Nachbarn als solcher wahrgenommen wird. Vielleicht eine erfreuliche Nachricht für ein schwaches Selbstbewusstsein, die allerdings noch nichts über die Qualität sagt, die dieser Hegemonie zugeschrieben wird. Hier die traurige Nachricht: Es sind bei unseren Nachbarn gerade die überzeugten Europäer, die Deutschland als einen Hegemon wahrnehmen, der Europas Totengräber werden könnte, weil ihm der Blick und der Gestaltungswille für das europäische Ganze fehlt. Unter diesem Gesichtspunkt wird das deutsche Verhalten während der Corona-Krise in Italien mit einer Aufmerksamkeit registriert, die es in der deutschen Öffentlichkeit nicht gibt. Dort wird Horst Seehofers Entscheidung vom vergangenen Wochenende, die deutschen Grenzen zu Frankreich, Dänemark und Polen und zu seinen südlichen Nachbarn dicht zu machen, als Entscheidung gegen Schengen gesehen. Zwar gibt es andere europäische Staaten, die ähnliche Entscheidungen trafen, aber Folli meint, dass man hier gerade von der europäischen Hegemonialmacht erwarten müsse, vorher nach einer gesamteuropäischen Lösung zu suchen. Massimo Cacciari sagte vor wenigen Tagen, dass die Corona-Krise „für schwächere Länder wie uns zu einem Desaster“ führen werde, und dass er mit Blick auf die Seehofer-Entscheidung befürchte, das „Ende von Schengen wird dem europäischen Traum den Gnadenstoß versetzen“. Wir übersetzen im Folgenden den Kommentar von Stefano Folli, den er am 16. März in der „Repubblica“ unter obigem Titel veröffentlichte.
„Alle, die viele Jahre lang an Europa glaubten, müssen im Kalender das heutige Datum mit einem schwarzen Stift einrahmen – in Ermangelung des schwarzen Steinchens, mit dem die alten Römer die Unglückstage markierten. Den Grund dafür muss man in Berlin suchen. Dort, in der Hauptstadt der europäischen Hegemonialmacht und dem Dreh- und Angelpunkt der wirtschaftlichen und institutionellen Architektur, auf der sich die EU stützt, hat man in Handumdrehen entschieden, das Schengener Abkommen außer Kraft zu setzen , das vor etwa dreißig Jahren geschaffen wurde, um den freien Verkehr von Personen und Gütern zwischen Ländern zu ermöglichen, die sich gegenseitig Jahrhunderte lang bekämpften.
Schon lange war Schengen nicht mehr nur der Name einer Kleinstadt in Luxemburg: Es war das Symbol einer historischen Einigung und emblematisch für ein neues Europa, das die einstigen Grenzen und die mit ihnen verbundenen Gespenster der Vergangenheit beseitigen wollte. Mehr noch: Es war das Ziel von Schengen, zwischen unterschiedlichen Völkern den Geist der Solidarität zu schaffen, als Zeichen eines gemeinsamen Schicksals, das mittlerweile den größten Teil des Kontinents erfasst – oder zumindest hat man darauf gesetzt, dass es so werden sollte. Leider hat das Virus diese Illusion innerhalb von wenigen Wochen hinweggefegt. Ein Beleg dafür, dass dieser Geist in Wirklichkeit schon angekratzt war, getrübt durch einen sich ausbreitenden Skeptizismus.
Man sagt ja, dass jenes Abkommen nicht abgeschafft, sondern nur „ausgesetzt“ sei: ein höflicherer und milderer Ausdruck. Aber vielleicht ist die Zeit des Kamillentees vorbei: Wenn man etwas tun kann und zweifellos auch tun muss, um das Wesen Europas zu retten, dann bedarf es zu aller erst und vor allem der kruden Sprache der Wahrheit. Es ist kein zu vernachlässigender Vorgang und kein laufender Verwaltungsakt, wenn Deutschland angesichts der Infektion die Grenzen schließt und Kontrollen verhängt wie zur Zeit der Nationalstaaten. Weil diese Entscheidung gerade zu dem Grundwert oder wenn man so will zur Utopie in Widerspruch steht, mit der man versucht hat, die Europäische Union aufzubauen: die fortschreitende und harmonische Überwindung von Egoismen; das Entschwinden nicht nur der Nationalismen – die auf die Müllhalde der Geschichte geworfen wurden -, sondern auch des Nationalitätsprinzips, als Überbleibsel des Patriotismus in der heutigen Welt. Doch dieses Projekt hat nach und nach an Schwung verloren. Es hat ihn verloren, als die Politik zeigte, dass sie nicht auf der Höhe dieser ihrer Mission bzw. dieses Traums war und sich der Bürokratie ergab. Als die Einheitswährung nicht zum Ausgangspunkt, sondern zum Ziel wurde. Als die öffentlichen Haushalte in Griechenland zum Preis eines unerträglichen sozialen Leidens saniert wurden. Als es klar wurde, dass es in der Union eine starre – und sicher unvermeidliche – Hierarchie gibt, die aber im Widerspruch zu den einstigen Hoffnungen steht.
Ein paar Jahre lang hat die Europäische Zentralbank unter Mario Draghis Führung diese Schwäche aufgefangen und die Inkongruenzen des europäischen Konstrukts teilweise verdeckt. Frankfurt war der reale zentrale Motor der EU. Das ist heute nicht mehr so. Nicht nur wegen der Fehler von Lagarde, sondern aus gravierenderen Gründen: dem völligen Mangel an politischem Verstand, den bei dieser Gelegenheit diejenigen zeigten, die aufgrund ihrer Rolle davon mehr als genug haben müssten. Nun wird behauptet, die EZB hätte ihren Kurs nicht geändert, und man werde das vom Virus getroffenen System mit Liquidität überfluten.
Man wird sehen. In der Zwischenzeit beschloss Berlin im Alleingang, einer nationalen Logik folgend, die Schengenschließung. Ohne Erörterung mit den Partnern und nicht auf die Außengrenzen beschränkt. Man zog es vor, die alten Grenzen zu reaktivieren, um die alarmierte Wählerschaft zu beruhigen. Und das in einem Moment, in dem sanitäre Hilfe eher von einem cleveren China als von den misstrauischen europäischen Freunden kommt. Das Virus hat die Heuchelei beendet, nur die Rhetorik ist geblieben.“
PS der Redaktion zur gegenwärtigen Lage: Noch immer sprechen die italienischen Nachrichten davon, dass dort der Höhepunkt der Corona-Pandemie eigentlich bald erreicht sein müsste, aber die Zahlen sprechen dagegen. Am Abend des 19. März meldeten die Agenturen 33.000 „Positive“ und 3400 Gestorbene, das heißt schon 200 mehr als in China. Wahrscheinlich sind auch diese Zahlen eine Beschönigung, weil vor allem die Informationen aus der Lombardei, wo das Virus am schlimmsten wütet, nicht mehr verlässlich sind. Dort ist die Krise mittlerweile „außer Kontrolle“ geraten, weil die Krankenhäuser kollabieren und viele Personen, die Symptome zeigen, sich gar nicht erst melden oder ohne Test wieder nach Hause geschickt werden. Die Zahl der Neuerkrankungen, die überhaupt registriert werden, steigt exponentiell (gestern Abend waren es 634, am Tag zuvor noch die Hälfte). Es sind gerade ältere Leute, die in den Statistiken nicht mehr auftauchen und zu Hause sterben, weil sie nicht mehr diagnostiziert und in die völlig überfüllten Intensivstationen aufgenommen werden konnten. Mailand ist zur Geisterstadt geworden.