Der doppelte Westen
Vorbemerkung der Redaktion: Wir übersetzen im Folgenden Auszüge eines Leitartikels von Ezio Mauro, der am 8. Januar in der „Repubblica“ unter dem Titel „I due Occidenti“ („Der doppelte Westen“) erschien. Er behandelt das Zusammenspiel des islamistischen Terrorismus mit Trumps Rechtspopulismus während der Iran-Affäre, das darauf hinausläuft, sich bei der Gelegenheit der Fesseln demokratischer Kontrolle zu entledigen: Trump befahl den tödlichen Angriff auf General Soleimani, ohne den Kongress zu benachrichtigen, „obwohl er wusste, damit eine Weltkrise zu entfesseln“, um dann auch noch anzukündigen, seine Antwort auf die vom Iran angedrohte Reaktion werde „unverhältnismäßig“ sein. Dass sich in Italien ein ähnlicher Drang zum „starken Mann“ zeigt, deutet Mauro durch den Verweis auf Salvinis Forderung nach „allen Vollmachten“ an (auch wenn es hier vor allem das Migrantenproblem ist, das ins Gigantische aufgebläht wird).
Unsere Übersetzung beginnt bei Mauros Feststellung, dass es „das Problem der Beziehung zwischen Sicherheit und Demokratie“ schon seit dem Angriff auf die Twin Towers am 11. September 2001 gebe. Ezio Mauro fährt dann fort:
Das demokratische Recht auf Selbstverteidigung
„Natürlich haben die Demokratien das Recht zur Selbstverteidigung, auch mit präventiven Aktionen und sogar mit dem extremen und widernatürlichen Rückgriff auf den Krieg, um sich und die eigenen Bürger zu retten. Aber die Demokratien haben gleichzeitig eine selbst gewählte Bindung, die ihnen ihre Identität auferlegt: Sie haben die Pflicht, auch bei der Verteidigung sie selbst zu bleiben, ohne sich dem falschen Bild anzugleichen, das die Terroristen von ihnen verbreiten. Das bedeutet, dass die Demokratie die Verpflichtungen respektieren muss, die sie ihren legitimen Führern auferlegt, indem sie den Griff zur Gewalt an die Gewalt des Rechts bindet. Eine Kriegshandlung außerhalb der Regeln der Demokratie ist nicht akzeptabel und wird zu einer illegitimen und schädlichen Handlung. In der – schönen – Theorie läuft das internationale Recht und die internationale Legalität über die UNO, die dafür verantwortlich ist, die Beweise, die Gefahren, die Verhältnismäßigkeit der Reaktion auf die Bedrohung und schließlich die Auswirkungen, Wirksamkeit und Notwendigkeit der Reaktion zu bewerten. Aber in der Praxis droht die terroristische Herausforderung diesen Mechanismus der Garantie und der Beherrschung internationaler Krisen zu unterlaufen.Das Alphabet des Terrorismus …
Die tödliche Auseinandersetzung zwischen dem Westen und dem islamistischen Terror unterscheidet sich in der Tat völlig vom traditionellen Krieg: Sie hat keinen festen Ort der Auseinandersetzung (außer dem Gebiet des sogenannten Kalifats), da sie sich zur Ubiquität entscheidet und jeden Ausdruck westlicher Alltäglichkeit zum Angriffspunkt macht. Sie hat keine Front, weil sie per definitionem asymmetrisch ist und den „einsamen Wolf“ eine unterschiedslose städtische Festgemeinschaft angreifen lässt. Sie hat keine militärische Taktik, weil sie qua Ideologie religiös begründet ist und das Martyrium einplant, mithin ohne Fluchtweg, also außerhalb unserer gewohnten Rationalität. Zumal Mächte wie der Iran und der Bevollmächtigte Soleimani „per Auftrag“ handeln und zuschlagen, indem sie lokale Akteure bewegen, bewaffnen, verstecken und dirigieren. In einer Auseinandersetzung diesen Typs ist es sehr viel schwieriger, klare und veröffentlichungsfähige Beweise für terroristische Operationen im Mittleren Osten zu haben, um mit ihrer Wahrheit und Transparenz die Legalität einer der Sicherheit dienenden Maßnahme begründen zu können – und um auf der Grundlage solchet Legitimität einen Konsens zu schaffen, der die Demokratie auch bei extremsten Handlungen bewahrt. Gerade wegen dieses Problems wäre es umso notwendiger, die Parlamente zu informieren, auch auf den dafür vorgesehenen nicht-öffentlichen Wegen. Der terroristische Notfall scheint jedoch jede Regel aufzuheben und uns von jeder Bindung zu befreien. Wir müssen handeln, bevor sie handeln: Das ist die Formel, die zweifellos ihre Suggestion hat, während sie gleichzeitig eine Falle versteckt: die Willkür der Macht, welche die Gefahr ins Gigantische überhöht, weil es politisch zweckmäßig ist, ohne dass es zu irgendeiner Auseinandersetzung, Diskussion oder auch nur schweigenden Übereinkunft zwischen Mehrheit und Opposition als verantwortliche Geste gegenüber der Nation kommt.
… mit dem Souveränismus als Gegenspieler
Zu dieser Besonderheit des Terrorismus, vor dem wir stehen und der das Alphabet und die Grammatik der Auseinandersetzung bestimmt, addiert sich nun auch die Besonderheit des Souveränismus, der unsere Epoche prägt.
Trumps strategischer Unilateralismus besteht nicht nur in der Entscheidung, das Weiße Haus von jeder Bindung an internationale Organe, Bündnisse und Abkommen zu befreien, um so die nationalen Kräfte rein und unverfälscht zu entfesseln. America first stellt auch die Interessen des Landes über alles andere und zerschlägt damit das Konstruktion eines Westens, in die Amerika den Wert der Freiheit und Europa seine Rechtskultur einbrachte, mit dem Ergebnis eines gemeinsamen Konzepts moderner Demokratie. Heute ist dieser Rahmen in die Krise geraten, weil es zwei Westen gibt …
Es scheint, als ob aus dem Zusammentreffen aller dieser Umstände ein neues Konzept der Souveränität entstünde, das den Notstand mit der Zweckmäßigkeit vereint, mit dem Führer, der von jeder vergangenen Verpflichtung, jeder Respektierung überkommener Regeln und allen Bindungen befreit ist, die sich aus dem demokratischen System des Gleichgewichts der Gewalten zur Vereinbarung von Herrschaft und Kontrolle ergaben. Die wahre Neuigkeit der gegenwärtigen Phase besteht darin, dass diese „Befreiung“ der Macht von allen Pflichten, die wir bisher für demokratisch und notwendig hielten, dem Zeitgefühl entspricht und durch die öffentliche Meinung begünstigt wird. Der unsicher und misstrauisch gewordene Bürger sieht sich schlecht repräsentiert und fühlt sich durch unkontrollierbare übernationale Ereignisse geschwächt und erschreckt und durch die Politik unzureichend geschützt. So gibt er die Schuld den demokratischen Verfahren und Regeln, in denen er Pflichten und Fesseln sieht, deren Ursachen und Legitimität er nicht mehr erkennt. Aus dem Bodensatz dieser Unzufriedenheit und Vereinfachung entsteht die Suggestion des „starken Mannes“ und die keineswegs zufällige Forderung nach „allen Vollmachten“. Wenn sich alles vereinfacht und auf ein Handeln reduziert, das sich allein dadurch rechtfertigt, dass es eben geschieht, endet nicht nur die Politik, sondern auch jede Diplomatie, jede militärische Taktik …, jedes strategische Kalkül, enden auch alle parlamentarischen Regeln und Notwendigkeiten der Schaffung eines nationalen Konsenses über gemeinsam getragene Ziele. Die Komplexität verschwindet, und was bleibt, konzentriert und verwandelt sich in den Führer und seine zur Mission transformierte Politik, die er dem Parlament und dem Land per Tweet übermittelt.“