Der fiktive Keynes der Linken

Vorbemerkung der Redaktion: Mit der Übersetzung des folgenden Artikels, den der Wirtschaftsjournalist Marco Ruffolo am 6. Oktober in der „Repubblica“ veröffentlichte (Titel: „In der Linken lebt ein fiktiver Keynes“), setzen wir unsere kleine Reihe von Artikeln fort, die sich mit der Frage beschäftigt, wo die Ursachen für die andauernde Misere der italienischen Wirtschaft zu suchen sind. Ruffolo kritisiert vor allem die Sympathie, die ein Teil der italienischen Linken dem Deficit Spending der neuen Regierung entgegenbringt, als Ergebnis eines unverstandenen Keynesianismus. Ähnlich wie schon Wolf Rosenbaum sucht er die Ursachen der Misere nicht in den Brüsseler Sparauflagen, sondern in hausgemachten Defiziten, wobei er den Fokus auf Defizite der staatlichen Verwaltung legt.

Die PD-Kundgebung, von der am Anfang des Artikels die Rede ist und die sich unter anderem gegen den neuen von der Regierung angekündigten Haushalt richtete, fand am 30. September in Rom statt. An ihr nahmen etwa 70.000 Menschen teil.

Dass am vergangenen Sonntag ein Teil der Linken der römischen Kundgebung der Demokratischen Partei fern blieb (die trotzdem erfolgreich war), der ersten gegen die Regierung von 5SB und Lega, hat einen tieferen Grund als die Gegnerschaft zur PD. Denn in Wahrheit missfällt dieser Linken der Regierungshaushalt keineswegs, da sie in ihm einen ersten Erfolg in dem schon lange andauernden Heiligen Krieg gegen die Regierungen der Austerität sieht. Der Fehdehandschuh der 2,4 %, der nun den Brüsseler Technokraten ins Gesicht geschleudert wird, soll an den Mut erinnern, den die keynesianische Revolution gegen die neoklassische Orthodoxie aufbrachte. Hinter der Hartnäckigkeit, mit der die Regierung die Defizitgrenze nach oben schiebt, steht tatsächlich der Mythos von Keynes. Schon seit einer Weile hat in der Vorstellungswelt einer gewissen Linken der dichte Schnurrbart des Lord John Maynard den rebellischen Bart von Karl Marx ersetzt. Auch wenn man darauf wetten kann, dass weder der eine noch der andere eine Liebe geschätzt hätte, die zum Götzendienst wird. Bekanntlich endet jeder Götzendienst damit, dass der originäre Gedanke in der Vitrine für Stereotype endet, wo Intelligenz durch Banalität und geistige Öffnung durch den Katechismus ersetzt wird. Besonders Keynes hätte es nie ertragen, zum Gefangenen der eigenen Karikatur zu werden. Seine Regeln funktionierten alles andere als automatisch. Der britische Ökonom war sehr wachsam im Hinblick auf die Zusammensetzung jener öffentlichen Defizitausgaben, die er den Ländern mit stagnierender Nachfrage für eine begrenzte Zeit empfahl. Er war sich bewusst, dass die „Multiplikatoren“, mit denen diese Ausgaben zusätzliches Einkommen schaffen, von strukturellen Faktoren abhängen, die auf keinen Fall zu vernachlässigen sind. Außerdem hatte seine Analyse keine öffentliche Verschuldung zu berücksichtigen, die so kolossal ist wie die italienische.

John Maynard Keynes

John Maynard Keynes

Um nicht missverstanden zu werden: Das herrschende Paradigma, gegen das Keynes ankämpfte – demzufolge der Markt sich selbst regulieren kann und der Staat nicht intervenieren darf –, ist immer noch quicklebendig, wenn auch in unterschiedlichen Ausformungen. Aus diesem liberalen Glauben entstehen immer noch falsche Ideen wie die „expansive Austerität“, die im Namen eines ausgeglichenen Haushalts auch in Krisenjahren das Sozialprodukt abwürgt, statt das Defizit zu mindern. Eine Idee, der der große britische Ökonom heftig widersprochen hätte, genauso wie ihn eine EU-Steuerpolitik empört hätte, die sie auf eine Handvoll mathematischer Parameter reduziert. Aber die radikale Linke antwortet auf diesen ideologischen Käfig mit einem anderen nicht minder ideologischen Käfig, indem sie die Lehre von Keynes zu der Idee komprimiert und deformiert, dass man nur ein bisschen Defizit machen müsse, um Italien wieder in Gang zu bringen – worin ihr sofort die grillinische Bewegung folgte. In dieser Vereinfachung wird derjenige, der die schärfsten Regeln der EU-Orthodoxie verteidigt, dem gleichen Negativurteil unterworfen wie derjenige, der ihr ein wenig Flexibilität abzuringen sucht, aber gleichzeitig weiß, dass bei einem allzu großen Überschreiten der Defizitgrenze das Risiko nicht so sehr das Verdikt aus Brüssel, sondern der Märkte sein wird, das die Zinsen zu Lasten der Schwächsten hochtreibt. Für die Verkünder des keynesianischen Katechismus gibt es zwischen beiden keinen Unterschied und wird beiden das vernichtende Etikett „neoliberal“ angehängt, das sie zu Sklaven der Finanzlobbies und der Brüsseler Bürokraten erklärt. Auch wer nur einwendet, dass es für das Investieren funktionierende Verwaltungen geben muss, wird sofort zum Staatsfeind erklärt.

Damit sind wir beim entscheidenden Punkt: den öffentlichen Investitionen. Was würde Keynes sagen, wenn er nach 72 Jahren aus dem Jenseits nach Italien käme, um festzustellen, dass hier weder der Staat noch die Regionen und Gemeinden zu Investitionen fähig sind, nicht weil es ihnen an Ressourcen, sondern an der Fähigkeit zur Projektentwicklung mangelt, weil die Verquickung von Kompetenz und Bürokratie ihre Durchführung auf abnorme Weise hinauszögert? Sehr wahrscheinlich wäre sein Rezept eine tiefgreifende Staatsreform, ohne die sich der „Multiplikatoreneffekt von Investitionen“ in sein Gegenteil verkehren muss. Wenn es von der Bereitstellung der Mittel bis zur Ausschreibung drei Jahre dauert und (im positiven Fall) weitere vier Jahre bis zum Baubeginn, dann ist klar, dass die anfängliche Bereitstellung der Mittel aus dem Defizit nur Schulden und kein Einkommen erzeugt. Wenn dann der britische Ökononom auch noch feststellen müsste, dass fast das ganze neue Defizit nicht für neue Investitionen bestimmt ist (weniger als ein Zehntel), sondern in höhere wiederkehrende Ausgaben (vom „Reddito di cittadinanza“ bis zum Stopp von Forneros Rentenreform) fließen soll, dann wäre wohl das Einzige, was dabei multipliziert würde, seine Skepsis.

Wenn er den Blick jenseits des Atlantiks richten würde, käme Keynes schnell zur Erkenntnis, dass das keynesianischste Land der Welt Amerika ist. Jawohl, genau jene Vereinigten Staaten, die als Heimat des rabiatesten Liberalismus gelten, haben angesichts der jüngsten großen Krise die öffentlichen Ausgaben viel stärker und nachhaltiger hochgepuscht als die Eurozone. Das war möglich, weil sie über ein funktionierendes föderales Regierungssystem verfügen, bei dem die Führungskräfte nach Leistung ausgewählt werden, die als private Manager agieren, aber im öffentlichen Interesse, mit klaren Zielen und wenig Doppelzuständigkeiten, deren Politik regelmäßig durch den Kongress überprüft wird. Exakt das Gegenteil dessen, was bei uns geschieht.

Aber diese Analyse, wie und unter welchen Bedingungen ein Staat es schafft, das Wachstum zu fördern, interessiert die Gemeinde der „anbetenden Neokeynesianer“ nicht im geringsten. Nach ihrer Meinung reicht es, ein paar Hebel zu betätigen. Alles, was diesen grob vereinfachten Mechanismus stört, auf den sie Keynes‘ Denken reduzieren, wird dem zu bekämpfenden Neoliberalismus subsumiert: die Haushaltsregeln, die Reformen, die gemeinsame Währung. Vor allem bei der ablehnenden Haltung gegenüber dem Euro kommt es zu einem noch breiteren Zusammenschluss: zwischen dem linken und grillinischen Radikalismus und dem Souveränismus der rechten Lega. Von links betrachtet ist der Euro der Rammbock des herrschenden Neoliberalismus; von rechts betrachtet ist er das Schwert, das jedes Streben nach nationaler Souveränität abschneidet. Die Analysen sind unterschiedlich, der Feind ist der gleiche. Da kommt es zu einer ungewöhnlichen Konvergenz zwischen denen, die Keynes einerseits „die Ewiggestrigen der extremen Rechten“ nannte, und andererseits „der Katastrophenpartei der Labour-Linken, die die bestehenden Institutionen hasst und verachtet, in der Überzeugung, dass deren Zerstörung die notwendige Voraussetzung dafür ist, dass etwas Gutes entsteht“.

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