Pisapias kleines Manifest

Vorbemerkung der Redaktion: Auf der politischen Bühne Italiens wirkt Giuliano Pisapia fast wie ein Exot. Anders als bei vielen radikalen Linken paart sich bei ihm Prinzipienfestigkeit mit Offenheit und ist der Veränderungswille stärker als der Wunsch, „im Recht“ zu sein. 1996 ließ er sich, der politisch von weit links kommt, auf der Liste von „Rifondazione Comunista“ als Unabhängiger ins Parlament wählen. 2011 wurde er Bürgermeister von Mailand, nachdem dort 18 Jahre lang die Rechte geherrscht und er in den Vorwahlen den Kandidaten der PD-Nomenklatura aus dem Feld geschlagen hatte. Aufgrund seiner Mischung von Modernisierungsbereitschaft und sozialem Gerechtigkeitssinn wurde er zu einem guten und beliebten Bürgermeister, der aber 2016 nicht mehr für eine Wiederwahl kandidierte (obwohl er von vielen Seiten dazu gedrängt wurde).

Seitdem engagiert sich Pisapia auf gesamtitalienischer Ebene. Zu Renzi ging er auf kritische Distanz, ist aber auch ein scharfer Kritiker einer (zersplitterten) Linken, die in Renzi den Hauptfeind sieht. Sein Projekt ist die Sammlung der Kräfte, die sich aufgrund von Renzis Rechtskurs von der PD abgewandt haben, für die aber trotzdem die Rechte (Berlusconi, Grillo, Salvini) der politische Hauptgegner bleibt. Er hat eine kleine Gruppe um sich versammelt, die den Namen „Campo Progressista“ trägt, aber sein Ziel ist ehrgeiziger: eine linke Sammlungsbewegung, die stark genug ist, um der PD nach der Wahl ein Bündnis anbieten zu können, unter der Bedingung, dass sie keine Koalition mit Berlusconi eingeht. Eine Zeitlang wollte Bersanis Abspaltung Mdp das Projekt mittragen, jetzt scheinen sich in ihr wieder die Kräfte durchzusetzen, denen dies zu „Renzi-freundlich“ ist. Pisapia kämpft an zwei Fronten: einerseits gegen jene, die mit der PD keinerlei Bündnis eingehen wollen und es Pisapia nicht verzeihen, dass er beim Referendum letztlich mit „Ja“ stimmte, andererseits gegen die Renzianer, die es ihm verübeln, nicht auf der PD-Liste zu kandidieren.

Im September leitete er der „Repubblica“ den folgenden (von uns übersetzten) Leserbrief zu, den man als ein kleines programmatisches Manifest seines Projekts betrachten kann.

„Es ist keine Bagatelle: Die Verabschiedung des Ius soli wäre ein Akt des Anstands („civiltà“) gegen die Kapitulation vor dem Zeitgeist. Eine Antwort, die nicht vor Orientierungsverlust und Angst resigniert. Es wäre der Beweis, dass wir fähig sind, uns die kulturelle Hegemonie zurückzuerobern, welche die Linke, die laizistischen und katholischen Selbstorganisationen, die Bürgerbewegung und die liberale Tradition verloren zu haben scheinen. Dafür ist ist der Ius soli ein entscheidender Punkt. Deshalb wollen wir damit beginnen.

Wir wollen Unterschiede verbinden, um ein politisches Projekt zu schaffen, das klar mittelinks ist. Es gibt diejenigen, die eher interessiert scheinen, den Apfel in zwei Teile und dann in noch immer kleinere Stücke zu teilen. Es ist offensichtlich, dass es eine zunehmende Fragmentierung zwischen denen gibt, deren Vorhaben es offenbar ist, zu verlieren, und denen, die sich selbst verlieren wollen. Eine minoritäre Linke entscheidet sich dafür, sich mit mit der eigenen Niederlage abzufinden, während die gegenwärtige PD hinzunehmen scheint, dass sie sich selbst verliert. Wenn sie auf einem falschen Wahlgesetz beharrt, das Italien der Unregierbarkeit oder ungewählten und von den Wählern ungewollten Bündnissen überantwortet, dient sie nur Sonderinteressen.

Pisapia2Wir sagen in aller Klarheit, dass es unser Ziel ist, der Rechten und der 5-Sterne-Bewegung entgegenzutreten, um ihrer Xenophobie und ihrem Populismus eine Grenze zu setzen. Aber wir müssen die Auseinandersetzung auf den Gebieten der Kultur, der Werte und der Programme führen. Wir müssen sie zurückdrängen, ohne hinter ihnen herzulaufen. All denen, die in Enthaltung und Desillusionierung geendet sind, schlagen wir ein erfolgversprechendes und innovatives Projekt vor. Ein Land, das nicht mehr mit Zuversicht auf Gegenwart und Zukunft schauen kann und stattdessen in Angst versinkt, ist das Gegenteil von einer Gemeinschaft, die sie überwinden will, ohne auf die eigene Weiterentwicklung und ein ziviles Zusammenleben zu verzichten. Wir wollen wieder jene zusammenbringen, die nicht vor dem Zank, dem Niedergang und der leeren Erzählung kapitulieren.

Wir brauchen eine freundliche und glaubhafte Revolution, die nicht durch ihre Feinde wächst, sondern durch Ideen und Leidenschaft weiterzukommen sucht. Schluss mit der Zerstörung, es ist Zeit, wieder aufzubauen. Das Land braucht ein Projekt. Wir wollen vom Leben der Menschen reden, von denen, denen es schlechter geht, von der Arbeit, vom Lohn, von der Umwelt, von den Städten, von der Kluft zwischen dem Norden und dem Süden, von der Diskriminierung der Geschlechter. Wir wollen darüber reden, was zu tun ist. Und vor allem wollen wir die Dinge tun, über die wir reden. Als ich Bürgermeister war, habe ich mich um Konkretheit und Vision bemüht, um Innovation und Solidarität. Mailand ist heute eine Stadt, die gerechter und wettbewerbsfähiger geworden ist.

Diese Erfahrungen möchte ich in den Dienst des Landes stellen. Wenn wir vom „Ulivo-Geist“ reden, meinen wir einen Weg, der die besten Energien zusammenführt. Der siegen will, ohne zu schreien. der regieren will, ohne zu kommandieren. Einen Zusammenschluss, der das Gemeinwohl ins Zentrum rückt. Es bedarf einer Wende („discontinuità“), um eine neue Seite aufzuschlagen, ohne jemanden zurückzulassen. Im Zentrum unserer Sorge stehen die Ungleichheiten. Die Ungleichheit zwischen Jung und Alt, Männern und Frauen, Nord und Süd, zwischen den italienischen Bürgern, Italienern und Migranten, zwischen den Städten, zwischen Stadt und Land.

Die Ungleichheiten müssen mit konkreten und ökonomisch nachhaltigen Maßnahmen bekämpft werden. Mit einer Steuerpolitik, die auf Progressivität gründet, mit einer aktiven Arbeitspolitik, mit qualifizierten Investitionen, mit einem Plan der kleinen Maßnahmen zur Pflege des Territoriums, das Recht zum Wohnen, zu einer grundlegenden Sanierung des Gesundheitswesens und der öffentlichen Schule. Denn inzwischen bedroht die Ungleichheit sogar die Lebensperspektive. Wie auch die Quote der Schulabbrecher alle unsere Schwächen aufdeckt. Man tritt der Ungleichheit entgegen, wenn man die Entwürdigung der Arbeit verhindert und auch vernünftige Formen eines Mindesteinkommens einführt.

Und dann geht es um die Vorbereitung der Zukunft, um eine Wissens- und Kreislaufökonomie, welche die Umwelt und das Territorium pflegt, um Innovation, Digitalisierung, urbane Regeneration, es geht um die Aufwertung der Berufe, des exzellenten Gastronomiesektors und der Biodiversität unserer Landschaft. In der Geschichte finden wir die Schlüssel, um die Pforten der Zukunft zu öffnen. Technologische Erneuerung und Entbürokratisierung als tragende Säulen eines neuen Entwicklungsmodells. Die Zukunft hat auch mit Europa zu tun. Europa, seine Demokratisierung, eine auf welfare gegründete Zivilisation bleibt unser notwendiger Horizont.

Die Politik darf nicht nur Brutalität und Karriere bedeuten, sondern muss wieder zu einem Ort des Austauschs und des Dienens werden. In der Politik als Dienst und nicht als Beruf muss es Diskontinuität geben, auch generationell. Persönlich engagiere ich mich für dieses Projekt – und werde es weiterhin tun -, weil ich es für richtig halte. Es wäre schön, wieder von Politik als einem Engagement reden zu können, das mit Schwung und Freude auch ehrenamtlich betrieben wird. Die Dinge ändern sich nicht aus Wut, und indem man die Leidenschaft ausklammert. Die Dinge ändern sich, wenn man sie gemeinsam angeht, und wenn es dabei auch um das Recht geht, ein Leben in Gelassenheit führen und mit Zuversicht in die Zukunft blicken zu können.“

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