Pisapias Appell zum „Tag danach“


Vorbemerkung der Redaktion:

Der Rechtsanwalt Giuliano Pisapia ist ein unabhängiger, eher links von der PD stehender Politiker, der trotzdem kein Sektierer ist. Im Jahr 2011, als Berlusconi noch im Sattel saß, schaffte es Pisapia, mit überwältigender Mehrheit zum Bürgermeister von Mailand gewählt zu werden, nachdem er sich dort bei den Vorwahlen gegen den offiziellen Kandidaten der PD durchgesetzt hatte. Vor ihm hatte die Rechte (und zuletzt Berlusconi, der Mailand als seinen natürlichen Vorgarten betrachtete), die Millionenstadt 18 Jahre lang beherrscht. Als es im Frühsommer dieses Jahres erneut Kommunalwahlen gab, trat in Mailand Pisapia, wie er von Anfang an angekündigt hatte, nicht wieder an. Obwohl er bei den Vorwahlen nicht seine Wunschkandidatin durchsetzen konnte, unterstützte er den von den „Renzianern“ vorgeschlagenen Kandidaten, der dann auch mit knapper Mehrheit gegen den rechten Kandidaten gewählt wurde – im Unterschied zu anderen Großstädten wie Rom und Turin, in denen die 5-Sterne-Bewegung Kantersiege landete.

Vor einigen Wochen erzürnte Pisapia die radikale Linke, die den populären Pisapia eigentlich als einen der Ihren betrachtet, mit der Verlautbarung, das ihn das NEIN zum Referendum „nicht überzeugt“, was zu heftigen Reaktionen führte. Das folgende (von uns übersetzte und geringfügig gekürzte) Interview, das er der „Repubblica“ am 18. November gab, steht noch unter dem Eindruck dieser Reaktionen. Es zeigt aber auch, wie einige Exponenten der Linken an den „Tag danach“ zu denken beginnen. Der nicht unbedingt einen neuen Regierungschef Renzi braucht, wie die Schlussbemerkung andeutet.


Pisapia, kommt es zur Apokalypse, zur Destabilisierung, wenn das Nein gewinnt?

Giuliano Pisapia

Giuliano Pisapia

„Weder auf den Sieg des Neins noch des Jas folgt die Apokalypse. Und ich glaube auch nicht, dass viele an ein solches Risiko glauben. Andererseits glaube ich auch nicht, dass es im Falle eines Siegs des Neins zu einem einjährigen Waffenstillstand kommt, in dem man sich der Reorganisierung des Landes widmen kann (diese Möglichkeit propagiert jetzt Berlusconi, um seinen Wählern sein NEIN schmackhaft zu machen, obwohl er einmal selbst die Verfassungsreform befürwortete, A. d. R.); stattdessen sehe ich ein noch tiefer gespaltenes und paralysiertes Parlament und eine Phase politischer Instabilität, die dem Land nicht gut tun wird.“

Sie haben schon gesagt, dass Sie das Nein nicht überzeugt. Vermeiden Sie trotzdem eine klare Stellungnahme?
„Ich habe nie Angst auch vor unbequemen Stellungnahmen gehabt. Aber ich bekräftige noch einmal: Ich weigere mich, gegen meine Weggenossen in einen Krieg einzutreten. Ich glaube an eine breite, offene, verantwortungsvolle Linke, die vernünftigen Argumenten zugänglich ist. Und ich will nicht hinnehmen, dass das Referendum und ein langer Wahlkampf zum „Kriegsgrund“ für einen nicht mehr heilbaren Bruch werden. Zu meiner Vorstellung von der Linken gehört niemand, der den Sieg von Trump bejubelt, in Europa wieder Mauern hochzieht und die Boote der Verzweifelten versenkt. Aber es gibt Leute, die (beim Referendum, A. d. R.) Ja wählen, wie es Leute gibt, die Nein wählen. Ich denke, wir sollten versuchen, uns unterwegs so wenig wie möglich zu verletzen. Und dabei ein einziges Ziel zu haben: das Land nicht den Rechten und den Populisten zu überlassen.“

Ist die lange Welle Trumps beängstigend?
„Mich ängstigt, dass man nichts aus der amerikanischen Lektion lernt, d. h. dem Triumph einer reaktionären Botschaft und dem Sieg der Politik der Wut. Nach dem Brexit und nach Trump bedarf es einer gewaltigen Anstrengung, damit sich diejenigen, die an die gleichen Werte glauben, nicht spalten. Wir müssen eine Formel finden, um wieder Brücken zu bauen. Während überall – auch bei uns, auch in der Linken und in Mittelinks – Mauern errichtet wurden. Dagegen richtet sich mein fast verzweifelter Appell: Mehr denn je müssten die Kräfte der Linken jetzt das Gewicht der historischen Verantwortung spüren.“

Könnte der populistische Tsunami auch über Italien hereinbrechen?
„Wir müssen klären, was wir unter Populismus verstehen… Wenn man denjenigen einen Populisten nennt, der sich mit reiner Demagogie schnellen Konsens zu verschaffen versucht, dann war es nicht nötig, den Ausgang der amerikanischen Wahlen abzuwarten, um festzustellen, dass es leider auch hier den Populismus schon gab.“

Wird sich das auch auf das Referendum über die Verfassungsreform auswirken?
„Wer von seinem Ja oder seinem Nein überzeugt ist, den wird der Blick auf Amerika kaum zu einer Änderung seiner Meinung bringen, vor allem wenn sein Motiv nicht die Verfassung, sondern die Absicht ist, die Regierung zu Fall zu bringen. Aber es gibt immer noch viele Unentschiedene, und ich bin überzeugt, dass ihre Mehrheit aufgrund dessen entscheidet, was sie über den Inhalt der Verfassungsreform weiß. Und dann wird es auch diejenigen geben, die ihre Entscheidung aufgrund der – teilweise schon erzielten – Fortschritte beim Wahlgesetz fällen, und sich ernsthaft dafür einsetzen, dass es nicht zu jenem „Kombinationskonstrukt“ kommt, der, wenn auch nur indirekt, einige Reformaspekte betrifft (P. meint hier die autoritäre Wende, die sich aus der „Kombination“ von Verfassungsreform und Wahlgesetz ergeben könnte, siehe „Dunkle Zeiten“, A. d. R.). Auch aus diesem Grund habe ich sehr die Initiative Cuperlos und all derer begrüßt, die nicht einfach die Waffen vor der Diktatur des 4. Dezembers strecken wollen. Nach dem 4. kommt der 5., Und es ist dieses Danach, auf das man schauen muss… Die Bürger müssen entscheiden, ob sie in dieser Reform mehr Licht oder mehr Schatten sehen. Und ob sie in Anbetracht der realen Situation – und nicht von Hoffnungen oder Träumen – den Status quo beibehalten wollen, ob man hätte mehr erreichen können oder ob es das Risiko einer Verschlechterung gibt. Ob die vorgeschlagene Änderung eine Chance bietet oder auch nur einen begrenzten, aber positiven Schritt voran bedeutet.“

Nach den Meinungsumfragen liegt das Nein vorn. Wenn sich das bestätigen sollte, müsste dann Renzi nach Hause gehen?
„Aus verfassungsrechtlicher Sicht sehe ich dafür keinen Grund, das müsste der Staatspräsident entscheiden. Allerdings zeigte sich Renzi kohärent, als er 2012 die Vorwahlen verloren hatte (bezieht sich auf Renzis ersten Anlauf, bei den Vorwahlen im Duell mit Bersani zum PD-Generalsekretär und damit auch zum PD-Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten gekürt zu werden, A. d. R.). Er erklärte damals, nun auch nicht im Parlament anzutreten. Und so geschah es dann ja auch.“

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