Der Populismus und die Ängste der Mittelschicht


Vorbemerkung der Redaktion:

Am 22. Juni, unmittelbar nach den Kommunalwahlen, gab Romano Prodi der „Repubblica“ das hier übersetzte Interview über die Ursachen der PD-Niederlage. Es enthält, wenn auch indirekt, viel Kritik an Renzis Politik. Aber Prodis Analyse geht weiter: In den Mittelschichten des Westens erzeugt die schleichende Demontage des Wohlfahrtstaats Ängste. Die Unfähgkeit der Linken, dagegen ein glaubwürdiges soziales Projekt zu entwickeln, treibt die Menschen in die Arme der Populisten. Dies ist nicht nur das Problem der italienischen Linken.

Romano Prodi, Wirtschaftswissenschaftler und praktizierender Katholik, war zweimal italienischer Ministerpräsident (einer Mitte-Links-Koalition) und 5 Jahre lang Präsident der Europäischen Kommission.


Die politische Weltkarte gerät durcheinander. Was passiert da gerade?
Es genügt nicht, nur auf die Wahl in dieser oder jener Stadt zu schauen. Die Welle ist weltweit, sie begann in Frankreich und ist nun in Amerika angekommen. Wir nennen sie Populismus, weil sie trotz fehlender Lösungsangebote ein zentrales Problem der Menschen von heute ausdrückt: wirtschaftliche Unsicherheit, soziale und identitäre Angst.

Entstehen die Populismen nur aus einer Angstkrise?

Prodi, wie er leibt und lebt

Prodi, wie er leibt und lebt

Die Angst, es nicht zu schaffen, ist gewaltig und real. Man sieht sie an der ungleichen Einkommensverteilung, aber in Wahrheit ist es die wachsende Ungerechtigkeit. Wenn ich Bankdirektoren frage, wieviel Beschäftigte sie noch in 10 Jahren haben werden, antworten sie: weniger als die Hälfte. Die Ungerechtigkeit nach Thatcher und Reagan summiert sich zur Auflösung der Mittelschicht- Eine schreckliche Tendenz, die es in allen entwickelten Marktwirtschaften gibt, wie sie auch immer regiert werden.

Wer gehört zu dieser Mittelschicht?
Im weitesten Sinn jeder, der über eine auch noch so bescheidene Sicherheit für sein Alter und seine Kinder verfügt. Doch der Rentner, der einmal stolz sagte ‚Ich habe es nicht geschafft, aber mein Sohn hat Abitur‘, sagt das heute nicht mehr. Der soziale Aufzug blieb auf halber Strecke stecken, nun erstickt man in ihm.

Die 5-Sterne-Bewegung schreit „Sauberkeit-Sauberkeit“, was vor allem für eine moralische Revolte zu sprechen scheint …
Die öffentliche Korruption verschlimmert alles, aber die Wurzel ist die Ungleichheit. Wir dachten, die Leute würden sich damit abfinden, dass der Wohlfahrtsstaat in kleinen Schritten demontiert wird: hier eine Gebühr mehr, dort ein Krippenplatz weniger, dort eine längere Warteschlange … Aber letztlich führt dieses Wegbröckeln der garantierten Leistungen zum starken Gefühl der Ungerechtigkeit und Angst, und es treibt in die Arme von Kräften, die ganz allgemein eine radikale Änderung verkünden.

Meinen Sie nicht, das sich diese Wut auch politisch anders ausdrücken könnte?
Als der Sozialismus noch in der Opposition war, schien er die große Alternative zu sein. Aber was geschah dann? Eine große Angleichung der Politik, von Clinton über die Großen Koalitionen in Deutschland bis zu Italien – ich will nicht sagen zur „Partei der Nation“, aber etwas Ähnliches geschah auch hier. (Die ‚Partei der Nation‘ meint Renzis Projekt, aus der PD ein Sammelbecken von ganz Links bis Rechts zu machen, Red.)

Führt die gleichgeschaltete Politik zum Populismus?
Nein, dahin führt eine gleichgeschaltete Politik, wenn sie das ganze Spielfeld abdeckt, ohne Lösungen anzubieten. Dann sucht sich die Volkswut ein anderes Spielfeld. Wenn sich das Wahlverhalten verflüssigt, liegt es daran. Wenn du siehst, dass den linken Parteien nur die historischen Stadtzentren geblieben sind … (bei den Kommunalwahlen war es die urbane Peripherie, die gegen Renzi stimmte, Red.). Wollen wir fragen, warum die Wall Street Trump hasst, während ihn die Metallarbeiter von Michigan anhimmeln? Als Leader ist er viel europäischer, als wir denken. Er ist nicht einfach nur reaktionär, sondern erfasst, wenn auch auf falsche Weise, die realen Ängste der Mittelschicht.

Aber die traditionelle Politik verliert auch, wenn sie Lösungen bietet. Piero Fassino sagt voller Bitterkeit, dass es nicht mehr reicht, gut zu regieren (siehe die Kommunalwahl in Turin, über die wir berichteten, Red.).
Fassino hat gut regiert, aber jeder heute Regierende wird zur Zielscheibe, weil er mit der herrschenden Macht identifiziert wird. Es geht um viel mehr als die einzelne Stadtregierung. Das Problem liegt darin, dass es den großen politischen Kräften des Landes nicht mehr gelingt, die Geschichte und die Gegenwart zu deuten.

Ist es ein Problem der politischen Klasse, die an der Regierung ist?
Es geht nicht darum, die Politiker auszuwechseln, sondern eine andere Politik zu machen. Das Auswechseln der Politiker ist notwendige, nicht hinreichende Bedingung.

Immerhin haben wir die Regierungspolitiker erst kürzlich ausgewechselt.
Wenn du keine andere Politik machst, gehört auch der neu eingewechselte Politiker schon in wenigen Jahren zum alten Eisen… Es gibt immer Verschleiß, und der geht dann schnell. Das Fehlen wirklicher Antworten verschleißt. Zur Zeit spürt man das Fehlen einer Antwort auf das Problem der Ängste und ihrer realen Ursachen.

Ist es die entideologisierte PD, der solche Antworten fehlen?
Sich ideologischen Fesseln zu entziehen ist etwas anderes als keine Wurzeln und klar gezielte Antworten mehr zu haben. Wir haben weder einen Keynes noch ein Projekt, um gemeinsam aus der Krise herauszukommen. Wenn du regierst, muss von deinem Handeln die Botschaft ausgehen, dass du die Probleme angehst, und das wird dir nur gelingen, wenn du in die Veränderung der Politik in starkem Maße auch das Volk als Basis einbeziehst. Du musst zeigen, dass du die Probleme verstehst und in Angriff nimmst. Erneuerung um der Erneuerung willen ist keine ausreichende Antwort.

Spielt hier auch die Personalisierung der Politik eine Rolle? Paradoxerweise siegt die 5-Sterne-Bewegung in dem Moment, in dem sich Grillo zurückzieht, während die PD ins Schwimmen gerät, wenn Renzi „die Vertrauensfrage stellt“…
Angesichts der Krise ist die erste Antwort immer eine starke Personalisierung, bei den Regierungen wie bei den populistischen Bewegungen. Aber das ist nur von kurzer Dauer, weil sie schnell dem Realitätstest unterworfen wird. Die Leute wählen Politiker, weil sie hoffen, dass sie die Dinge ändern, die Personalisierung ist nur ein Reflex. Bei diesen Wahlen haben Unbekannte gewonnen. Die Personalisierung führt zu nichts, wenn sich die Dinge nicht ändern oder sie sich nicht zumindest mit der Hoffnung auf konkrete Veränderungen verbindet.

Haben die Gewinner dieser Wahlen gesiegt, weil sie diese Hoffnung weckten?
Ihre Antworten auf spezifische Ängste sind emotional und konfus, ihre Schlagworte simpel: Weg mit den Immigranten, die Banken bestrafen, aber ohne den Hauch einer Erklärung, wie sie das bewerkstelligen wollen. Aber ihr Vorteil liegt woanders: Sie verstehen es, sich den Ängsten anzupassen. Diese Bewegungen entstehen meist ganz gezielt in bestimmten Nischen. Dort haben sie einen gewissen Erfolg, dann stagnieren sie, weil ihre Lösungen ideologisch begrenzt sind. Dann erweitern sie sich von rechts nach links und von links nach rechts. Marine Le Pen hat als erste die Grenze des allzu parteilichen Populismus verstanden und ihren ‚Vatermord‘ begangen. In diesem Moment wurde sie zur potenziellen Präsidentin der Französischen Republik. In Italien geschieht Ähnliches…
Die 5-Sterne-Bewegung verstand als erste, dass man auf der Protestwelle, nicht auf einer Protestwelle reiten muss. Siehe ihr Verhältnis zur Immigration: Ihre Stellungnahme ist so ungreifbar, dass sie sowohl zugunsten der Rechten als auch der Linken interpretierbar ist. Nach den mir bekannten Analysen scheint es zu funktionieren: Sie wird auch von den Alten in der großstädtischen Peripherie und von den Unterschichten gewählt, bei denen die Angst vor den Immigranten am stärksten ist.

Herr Professor, Sie halten Abstand zur italienischen Politik, aber hat diese Geschichte auch eine Moral?
Ein Projekt und Verankerung im Volk. Mögliche Veränderung, die zur Herzensangelegenheit der Leute wird. Der einzige, der es kapiert hat, ist Papst Franziskus.

1 61 62 63 64 65 104