Die Seelen der Fischer

Vorbemerkung der Redaktion: Der in Eritrea geborene italienische Regisseur Gianfranco Rosi hat den Goldenen Bären, den er für seinen dokumentarischen Film „Fuocoammare“ erhielt, den Bewohnern von Lampedusa gewidmet. Rosi lebte ein Jahr auf der Insel, lernte dort die Menschen kennen und gewann Freunde. Während der gesamten Preisverleihung stand, still und zurückhaltend, ein älterer Herr im grauen Anzug neben ihm. Rosi nennt ihn „seinen Lehrer“. Es ist der Arzt von Lampedusa, Pietro Bartolo, der in den letzten 25 Jahren über 250.000 Migranten und Flüchtlingen ärztlich versorgt und vielen von ihnen das Leben gerettet hat („Die Zahl hat man mir so gesagt, ich selbst weiß das nicht genau, Zahlen interessieren mich nicht, ich sehe die Menschen“). Über den Preis für „Fuocoammare“ freue er sich sehr, sagte Bartolo, das sei toll und in Berlin sehr aufregend gewesen, aber nun wolle er möglichst schnell zurückkehren. Und erklärte: „Die Rolle, die Lampedusa in dieser Zeit epochaler Migration zufällt, betrifft ganz Europa. Viele errichten heute Mauern, bauen Stacheldrahtzäune. Aber weder Mauern noch Drahtzäune werden die Menschen aufhalten. Das Einzige, was sie aufhalten könnte, wäre eine wirkliche Hilfe für ihre Länder. Aber solange man das nicht schafft, ist es unsere Pflicht, sie aufzunehmen und für sie zu sorgen. Wie es immer das Volk von Lampedusa gemacht hat. Davon erzählt Rosis Film. Und ich wünsche mir, dass er für viele Menschen und Institutionen als Ansporn dient und sie dazu bewegt, das zu tun, was sie tun könnten und noch nicht getan haben“.

Gianfranco Rosi schlägt vor, den Einwohnern von Lampedusa und Lesbos – stellvertretend auch für andere – den Nobelpreis zu verleihen. Hier die Übersetzung seines Beitrags in der Tageszeitung „La Repubblica“ vom 22. Februar.

Rosi: Nobelpreis für Lampedusa und Lesbos

Der Regisseur mit seinem "Lehrer"

Der Regisseur mit seinem „Lehrer“

„Der Nobelpreis an die Bewohner von Lampedusa und Lesbos wäre eine richtige Wahl und eine wichtige symbolische Geste. Ihn nicht einer Einzelperson, sondern einer ganzen Bevölkerung zu verleihen. In den letzten zwanzig Jahren haben die Lampedusaner nie aufgehört, ankommende Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Ich habe dort ein Jahr lang gelebt und nie Worte der Angst oder Sorge wegen der täglich kommenden Boote gehört. Die einzigen Gelegenheiten, bei denen ich erlebt habe, dass sie wütend wurden, waren negative Mediennachrichten über ihre Insel: „Desaster auf Lampedusa“, „Die Fische fressen Leichen“, „Terroristen kommen nach Lampedusa“. Gegen solche Sachen reagieren sie – zu Recht – total ablehnend. Sie möchten, dass alles möglichst ohne mediale Einmischung läuft, damit sie sich ihrer täglichen Hilfsarbeit widmen können. Heute, wo die Aufnahme inzwischen zu einer bürokratischen Prozedur geworden ist (durch die Einrichtung eines Hotspots, MH), werden dafür viele Mitarbeiter eingesetzt: von der Bergung der Menschen auf See bis zur Ankunft im Hafen und der Registrierung im Aufnahmezentrum. Aber bis vor Kurzem, als die Boote noch am Strand landeten, waren es die Einwohner, die die Flüchtlinge in Empfang nahmen, ihnen erste Hilfe leisteten, sie verpflegten und in ihren Häusern unterbrachten.

Es gibt eine Erzählung des Arztes Pietro Bartolo, die ich tief in meinem Herzen trage, auch wenn ich sie in meinen Film nicht aufnehmen konnte: Als es auf einem überfüllten Boot eine Schwangere in dem menschlichen Gedränge nicht schaffte, zu gebären, richtete Bartolo ganz schnell in seiner Praxis einen kleinen OP-Raum ein und holte dann das kleine Mädchen hervor. Davon hat er niemandem etwas erzählt, aber als er erschöpft aus dem OP-Zimmer kam, warteten vor der Tür etwa 50 Lampedusanerinnen mit jeder Menge Windeln und Babykleidung. Das Mädchen wurde „Gift“ (das englische Wort für „Geschenk“) genannt und lebt heute mit seiner Mutter in Palermo.

„Nie habe ich jemand von Absperrungen reden hören“

Das ist die Einstellung nicht nur der Lampedusaner, sondern auch der Menschen auf Sizilien. Auch dort sind in letzter Zeit Tausende von Flüchtlingen angekommen und nie habe ich in Palermo oder Catania jemanden von Absperrungen reden hören. Jene schändlichen Absperrungen – materielle wie geistige -, die einige europäische Staaten heute errichten. Willkommensbereitschaft ist das Erste, was ich von den Bewohnern Lampedusas gelernt habe. Ich war über diese große Offenheit erstaunt, aber Dr. Bartolo, der mir dort ein Lehrer gewesen ist, erklärte mir, dass sie ein Fischervolk sind und deswegen alles aufnehmen, was vom Meer kommt. Auch wir sollten die Seelen von Fischern haben. Ich habe den Berlinale-Preis für „Fuocoammare“ der Insel Lampedusa und ihren Einwohnern gewidmet. Den Goldenen Bären habe ich Herrn Bartolo ausgehändigt, er reist heute dorthin zurück, um ihn den Lampedusanern zu überbringen. So wird der Preis erst auf die Insel kommen und erst später zu mir nach Hause. Weil das Volk von Lampedusa zu meiner Familie geworden ist.“

Pietro Bartolo ist inzwischen – mit dem Goldenen Bären fest in der Hand – auf seine Insel zurückgekehrt, wo er begeistert empfangen wurde. „Dieser Goldene Bär gehört uns, wir alle hier empfinden das so. Und wir danken dafür Gianfranco Rosi“ erklärte die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini.

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