„Im Schützengraben des Mittelmeers“
Vorbemerkung der Redaktion: Einen Tag nach dem barbarischen Attentat, das die Jihadisten am 18. März in Tunis verübten, schrieb Gad Lerner für die „Repubblica“ einen Kommentar, den wir auszugsweise übersetzen. Nicht weil wir die „internationale Polizeiaktion“, die er für Nordafrika fordert, für das Ei des Kolumbus halten. Wir wissen es nicht. Aber wir halten es für unerträglich, wenn sich bei uns die Öffentlichkeit nicht einmal der Frage stellt, was gegenüber dem mörderischen Vormarsch von IS und Al Quaida in Nordafrika zu tun ist. Zyniker mögen sich damit beruhigen, dass es bei dem Anschlag von Tunis keine deutschen Opfer gab. An der Tatsache, dass auf der Seite der IS-Schlächter längst auch deutsche Staatsbürger mitmischen, scheint uns nur die Frage zu interessieren, welche Gefahr von ihnen nach ihrer Rückkehr ausgeht. Hauptsache, die Italiener halten ihren Haushalt in Ordnung und uns bitte die Flüchtlinge vom Leib (was sie empörenderweise nur halbherzig tun). Nordafrika ist ihr Problem. Dass der Mittelmeerraum einmal die Wiege unserer gemeinsamen Zivilisation war, wen kümmert’s? Jeder kehre vor seiner eigenen Haustür. „Die Europäer gibt es außenpolitisch nicht “ (Martin Schulz in der ZEIT vom 19. März).
Gad Lerner schrieb unter der obigen Überschrift:
„Tunesien ist die schmale Brücke zwischen den zwei Ufern des Mittelmeeres, welche die Jihadisten in die Luft sprengen wollen. Mit der Ermordung so vieler Menschen zielt der islamistische Fanatismus auf die Idee der mediterranen Kultur, des mediterranen Austausches selbst.
Das Laboratorium Tunesien
Das heißt auf jenen Strom, aus dem unsere Zivilisation ihren Lebenssaft gewinnt. Den IS zu stoppen verlangt eine Übernahme von Verantwortung, die viel zu lange hinausgezögert wurde. Ein Zögern, für das es verständliche Gründe gibt: Wir sorgen uns um die militärischen Implikationen eines solchen Schrittes seitens unserer Regierung und der Europäischen Union. Ein Schritt, der zwar größter Umsicht verlangt, dessen weitere Verzögerung allerdings noch gefährlicher wäre. Wenn unsere Landsleute zu Hunderten in Geiselhaft genommen werden, wenn Europa mit brutaler Gewalt dazu gebracht werden soll, das südliche Ufer des Meeres, in das es eintaucht, als Tabuzone zu betrachten, wird eine internationale polizeiliche Intervention unausweichlich. Bei der aus geographischen Gründen vom direkt betroffenen Italien eine Hauptrolle verlangt wird. Allzu klar ist das Ziel der in Tunis entfesselten kriminellen Zerstörungswut: das einzige muslimische Land anzugreifen, dem es gelang, nach dem Tyrannensturz durch die Volksaufstände von 2011einen mühsamen Prozess der Demokratisierung einzuleiten. Mehr noch. Der mutige Widerstand einer tunesischen Zivilgesellschaft, die mit uns die Werte des Pluralismus und der Säkularisierung teilt, hat die Muslimbruderschaft gespalten und einen bedeutenden Teil der Islamisten dazu gebracht, sich am verfassungsgebenden Prozess zu beteiligen. Und somit zu einer wichtigen Spaltung innerhalb des islamistischen Lagers geführt. Was unerträglich ist für die Anhänger eines Kalifats, das seit Jahrhunderten nicht mehr existiert und ein obskurer Religionskrieg wieder zum Leben erwecken soll. Sie wollen das tunesische Laboratorium zerstören, um aus ihm ein zweites Libyen zu machen und im ganzen Maghreb Chaos zu säen …Zulauf für ein obskures Kalifat
Das Tunis-Attentat ist Teil einer umfassenden durchdachten Militärstrategie, die von Mesopotamien bis Afrika und bis ins Herz Europas reicht. Untätigkeit in einer solchen Lage wäre fatal. Auch weil es einen zweiten Faktor gibt, vor dem wir die Augen verschließen … und dessen enorme kulturelle Bedeutung wir lieber verdrängen: Von Jahr zu Jahr verdoppelt sich vor unseren Augen die Zahl der islamistischen Krieger, die unter Leugnung jeglichen Selbsterhaltungstriebs zum Selbstmord bereit sind. Es sind inzwischen Tausende junger Männer, wenn sie sich nicht sogar unwissender Kinder bedienen. Als Märtyrer verehrt, wählen sie den Freitod als ersehnte Abkürzung ins Paradies, im verqueren Glauben an einen Monotheismus, dem aus ihrem Todesopfer neue Lebenskraft zuwachsen werde. Durch die Zerstörung des heidnischen Tempels – der durch ein Kind, eine Statue oder ein Mosaik verkörpert werden kann, egal was – erfüllen sie ihre revolutionäre Mission, den Beginn einer „Neuen Ära“.
Warum erscheint das Heer der Freiwilligen, die zum Abschlachten antreten, so unerschöpflich? Wir können sie inzwischen nicht mehr zählen. Dabei wäre es nötig, sie besser zu kennen, um sie besser bekämpfen zu können. Die Vermehrung der terroristischen Selbstmordkandidaten, die Bereitschaft zu sterben, um ihren Hass über uns auszuschütten, sind uns so fremd, dass uns der Schreck lähmt. Wir haben Mühe, uns eine Militäraktion vorzustellen, die in diesem asymmetrischen Krieg wirklich Erfolg haben könnte. Zu recht hat man darauf hingewiesen, dass eine traditionelle Intervention im Kalifatsgebiet oder im Wüstenmagma der libyischen Banden zur Falle werden könnte. So erwägt man eine Seeblockade vor Libyens Küste, flankiert von Schutztruppen zur Unterstützung örtlicher Widerstandszentren und humanitären Korridoren.
Die militärische Option ist unumgänglich
– aber gleichzeitig sind wir uns ihrer Grenzen bewusst, denn in diesem Konflikt sind kulturelle Faktoren genauso entscheidend. Nicht hilfreich ist die radikale Ablehnung eines palästinensischen Staates durch Netanyahu, wo doch gerade die Muslime zu den wichtigsten Bündnispartnern der europäischen Demokratien gegen den Jihadismus werden müssten. Die Fallstricke einer internationalen Polizeiaktion lassen einem das Blut in den Adern gefrieren. Aber die entgegengesetzte Entscheidung, uns am Nordufer des Mittelmeeres zu verschanzen in der Illusion, das lange vorhandene Band mit unseren mediterranen Nachbarn durchtrennen zu können, wäre Masochismus. Um es klar zu sagen: Sollte die libyische Bedrohung nicht genügen, um uns aufzurütteln, so ist die Verteidigung Tunesiens als Brücke über das Mittelmeer und zur Demokratie seit dem 18. März … zu einer neuen strategischen Piave-Linie geworden.“
(Anm. d. Red.: Die „Piave-Linie“ war die Frontlinie, welche die Italiener im ersten Weltkrieg – mit Erfolg – gegen die Österreicher verteidigten)