Alles Gute zum Geburtstag, Italien
Als das vereinte Italien 100 Jahre alt wurde, war ich noch ein Kind. Ich hatte gerade lesen gelernt und besuchte die Grundschule in einem Mailänder Arbeiterviertel.
Ein altes Foto hat mich wieder daran erinnert, dass unsere Klasse aus 32 Schülern bestand, von denen nur ein Drittel in Mailand geboren war. Noch weniger hatten Eltern, die wirklich aus Mailand oder der Lombardei stammten. Das Wort „Extracomunitari“ gab es damals noch nicht, aber die meisten meiner Klassenkameraden waren Kinder von Emigranten, die aus Sizilien, Apulien oder Kalabrien kamen. Oder aus dem Veneto, denn damals – zu Beginn der 60er Jahre – gab es Emigration auch von dort. Nicht mehr nach Amerika, wie noch ihre Großväter und Urgroßväter, sondern in das Dreieck zwischen Mailand, Turin und Genua, in dem die Industrie boomte.
Das hundertjährige Italien feierte. Das Fernsehen, das damals noch von der Democrazia Cristiana kontrolliert wurde, brachte Filme und Dokumentationen über das Risorgimento, die man sich in der Familie oder, wo es zu Hause noch keinen Fernseher gab, gemeinsam mit den Nachbarn in Bars und Cafés anschaute. Man begeisterte sich für das Schicksal der Helden von „Ottocento“ (Achtzehnhundert) oder „La Pisana“ (Die Frau aus Pisa), in denen berühmte Werke von Salvador Gotta oder Ippolito Nievo zu TV-Serien verarbeitet wurden. Die Kinder sammelten dazu Klebebildchen und erfuhren, wie lang und mühsam der Weg zur Einigung Italiens war. Wir lernten nicht nur Garibaldi und Mazzini, Cavour und Vittorio Emanuele II mit ihren Vorzügen und Mängeln kennen, sondern auch Namen und Taten von weniger bekannten Vorkämpfern des Risorgimento. Viele erschienen uns vorbildlich, wenn es auch schwerfiel, ihnen nachzueifern. Die Klebebildchen und Fernsehbearbeitungen erzählten uns viel mehr, als was wir darüber in der offiziellen Schule erfuhren. Sie vermittelten uns auch Werte, z. B. den Mut, zu eigenen Überzeugungen zu stehen und für sich und die anderen Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie zu fordern.
50 Jahre später hat sich Italien radikal verändert. Leider nicht zum Besseren. Sicherlich gibt es mehr Wohlstand, auch wenn er jetzt von der Krise bedroht ist. Aber Italien ist heute ein gespaltenes Land. Und in der Hand einer Regierung, die auf dem Kuhhandel zwischen einer Unternehmens- und einer Egoismuspartei beruht. Für Bossis Lega ist Fremdenfeindlichkeit der Kitt, der ihre Wählerschaft zusammenhält, und die Trennung des Nordens vom Rest der Nation der Wegweiser. Sie fordert Föderalismus, aber denkt an Sezession. B. ist ihre Geisel. Gleichzeitig benutzt B. die Abgeordneten der Lega – wie seiner eigenen Partei -, um den alten Plan der Geheimloge P2 zu verwirklichen, Italien in eine „moderne“ Diktatur zu verwandeln. Und um sich selbst vor dem Gefängnis zu retten.
Diesmal bringen die öffentlichen und privaten Fernsehsender keine Seifenopern über das Risorgimento. Die Klebebildchen, welche die Kinder heute austauschen, sind die von Fußballspielern und Schauspielerinnen. Vielleicht auch bald von Bunga-Bunga-Hostessen und Milliardärsvillen. Sicherlich nicht von Helden des Risorgimento, noch weniger von Grundsätzen der Verfassung.
Sich dieser Abdrift in eine Gesellschaft ohne Werte entgegenzustemmen ist politische und moralische Bürgerpflicht.
Wenn nicht jetzt, wann sonst? schrien die Frauen vor ein paar Wochen auf den italienischen Plätzen. Mit Recht. Das gilt auch für das Risorgimento und seine höchsten Ziele, die Einheit des Landes und jene Grundsätze der Freiheit und Demokratie, die nach zwei Jahrzehnten Faschismus ihren Ausdruck in der republikanischen Verfassung fanden. Das sind Werte, Grundsätze und Institutionen, die von allen Bürgerinnen und Bürgern verteidigt werden müssen, wie gerade der Präsident des Verfassungsgerichts de Siervo erklärte. Es ist auch die beste Art, um Italien zum Geburtstag alles Gute zu wünschen.