Die Rotlicht-Regierung

Wenn Sie erwarteten, wir würden unter dieser Überschrift einen Katalog von B.s sexuellen Gewohnheiten auflisten, müssen wir Sie leider enttäuschen. Aber keine Sorge, fast die gesamte Weltpresse lässt sich über sie aus. Eigentlich hätten wir es vorgezogen, auch den neuesten von B. verursachten Skandal mit Schweigen zu übergehen. Denn er ist wohl wirklich der „einsame und unglückliche“ Mann, als der ihn gerade seine 18-jährige Gespielin Ruby Rubacuori beschrieb (deren „Künstlername“, übersetzt „Herzensräuberin“, auch ihre Visitenkarte ist).

Der Mann, um den es geht, ist aber nicht irgend ein privater Bürger. Er ist immer noch – wir hoffen, nicht mehr lange! – Ministerpräsident eines einigermaßen wichtigen Staates in Europa und der Welt, der unangefochtene Chef einer Koalitionsregierung, die sich als Festung christlicher Werte gegen „Kommunisten“ und Islamisten präsentiert. Er trägt eine zu hohe öffentliche Verantwortung, als dass die Angelegenheiten, die scheinbar „privat“ sind, einfach außer Betracht bleiben könnten. Unter bestimmten Bedingungen haben seine Verhaltensweisen Rückwirkungen auf seine öffentliche Rolle. Sie tun es gegenwärtig auf so evidente Weise, dass der Ruf nach seinem Rücktritt immer unüberhörbarer wird. Es gibt dafür zumindest vier Gründe:

  1. Wenn es der 74-jährige B. liebt, seine Abende mit barbusigen Zwanzigjährigen zu verbringen, mag das noch als pathetische Kauzigkeit durchgehen. Aber wenn er zum „Endnutzer“ minderjähriger Prostituierter wird – so eine der von der Staatsanwaltschaft erhobenen Anschuldigungen -, dann ist dies eine Straftat, die er vor Gericht verantworten muss, mit allen Garantien, welche die Demokratie einem Angeklagten bietet. Wie es bei jedem anderen Staatsbürger der Fall wäre.
  2. B. ist – das zeigen die Ermittlungen – ein Mann, der erpressbar ist, und zwar für skrupellose Menschen, die seine Festen besuchten, Fotos machten und seine intimsten Gespräche mithörten. Ein Regierungschef kann es weder sich noch dem Land gestatten, erpressbar zu werden.
  3. B. nutzt seine politische, mediale und finanzielle Macht, um sich dem Gericht zu entziehen. Als Populist, der er nun einmal ist, sucht er im Volk einen Konsens, der seine inakzeptablen Verhaltensweisen unter den Tisch fallen lässt, und greift die gesamte Justiz an. Nach unserer Auffassung gehört es jedoch nicht zu den Privilegien eines Ministerpräsidenten, ungestraft Gesetze brechen und sich seine Richter nach eigenem Gutdünken aussuchen zu können.
  4. B. diskreditiert nicht nur sich selbst und seine Koalition, sondern das gesamte Land.

Zu denjenigen, die in diesen Tagen B.s Rücktritt forderten, gehört auch die Vereinigung Libertà e Giustizia (Freiheit und Gerechtigkeit), deren Appell wir voll und ganz teilen und im Folgenden veröffentlichen. Zu Libertà e Giustizia gehören Juristen wie Gustavo Zagrebelsky und Valerio Onida, beide ehemaige Präsidenten des italienischen Verfassungsgerichts, und international angesehene Intellektuelle wie Gae Aulenti, Umberto Eco, Umberto Veronesi und Claudo Magris. Paul Ginsborg ist Historiker, Sandra Bonsanti Präsidentin von Libertà e Giustizia.

Appell von Libertà e Giustizia

1. Rücktritt

Wir fordern Silvio Berlusconi zum sofortigen Rücktritt auf. In keinem anderen demokratischen Land würde ein Ministerpräsident, gegen den wegen so schwerwiegender Anklagepunkte ermittelt wird, im Amt bleiben. Alle Bürger Italiens, welcher politischen Überzeugung auch immer, müssen sich dessen bewusst sein, dass es das Bild ihres Landes schwer beschädigen wird, wenn Berlusconi im Amt bleibt.

2. Erscheinen vor Gericht

Wir fordern Silvio Berlusconi auf, nicht das Fernsehen zu nutzen, um sich zu verteidigen und die Staatsanwälte über seine beträchtliche Medienmacht zu diskreditieren, sondern wie jeder Bürger vor Gericht zu erscheinen. Dort kann sich Berlusconi der bestbezahlten Anwälte des Landes bedienen. In seinem Interesse und im Interesse Italiens hoffen wir inständig, dass er seine Unschuld beweisen kann. Angesichts der von Berlusconi und seinen Anhängern erhobenen Behauptung, ihm gegenüber seien die Richter unheilbar voreingenommen, erinnern wir daran, dass ihm der Grundsatz: Im Zweifel für den Beklagten, schon verschiedentlich zugute kam. Im Fall Mondadori zum Beispiel bewertete das Gericht die Position des Regierungschefs als „mildernden Umstand“, was – in seinem Fall einzigartig – zu dessen Verjährung führte.

3. Die Rolle des Staatspräsidenten

In einer Situation, in der es zwischen den beiden wichtigsten staatlichen Gewalten – der Justiz und der Exekutive – zu einer für die Zukunft des Landes höchst gefährlichen Konfrontation kommt, fordern wir Staatspräsident Napolitano auf, schnell die Lage einzuschätzen und im Rahmen der verfassungsmäßigen Grenzen einzugreifen.

4. Die Parteien der Opposition

Wir fordern alle Parteien der Opposition auf, ihre Meinungsunterschiede und jeweiligen Führungsansprüche beiseite zu lassen und einhellig den Rücktritt des Ministerpräsidenten zu verlangen.

5. Zivilgesellschaft

Die vielfachen Zusammenschlüsse und Abertausende von Bürgern, die zivilgesellschaftlich aktiv sind, laden wir dazu ein, ihre Kräfte zu bündeln und sich zu einer einheitlichen Aktion zusammenzuschließen. Vor allem die katholische Welt fordern wir auf, den Vatikan zu einer Stellungnahme in einer für die öffentliche Ethik so wichtigen Frage zu ermuntern.

6. Die Freunde Italiens in der Welt

Wir haben diesen Appell sowohl in Englisch als auch in Italienisch verfasst, um all denjenigen, denen im Ausland unsere Demokratie und das Schicksal unserer Landes am Herzen liegt, eine Botschaft zu schicken. Verliert nicht Euer Vertrauen zu Italien! Wir brauchen Eure Solidarität und Eure Hilfe.

Gustavo Zagrebelsky, Paul Ginsborg und Sandra Bonsanti,
im Namen von „Libertà e Giustizia“.
(www.libertaegiustizia.it)

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