Emilianità

Mit einem Schlag – und das kann man wörtlich nehmen – ist in der italienischen Region Emilia nichts mehr so, wie es vorher war. Am 20. Mai 2012, die Nacht begann gerade etwas lichter zu werden, bebte die Erde zwischen Modena, Bologna und Ferrara gewaltig. Und am 29. Mai ließ ein weiteres starkes Beben die Menschen in dieser Ecke noch einmal erschrecken.

Seitdem kommt es immer wieder, seit Wochen schon zu zahlreichen schweren, mittleren und leichteren  Nachbeben. Flüchtige Zuckungen der Erde hat es in dieser Region immer schon gegeben. Niemand nahm das besonders ernst oder es war Stoff für kleine Geschichten, erzählt bei Rotwein und Pasta in der Trattoria. Das letzte große Erdbeben lag immerhin schon über fünfhundert Jahre zurück. Das wird sich schon nicht wiederholen, dachten hier alle, glaubten hier alle, hofften hier alle.

Doch dann, völlig überraschend, vollkommen unerwartet, krachte es Mitte Mai 2012 gehörig in der Emilia. Kaum ein Haus in dieser Gegend blieb nach diesem „Big Bang“ im Mai ohne Risse in der Wand. Kirchen zerbröselten wie ein alter vertrockneter Kuchen. Fabrikhallen wurden unter zusammenkrachenden Dächern platt wie eine Pizza gemacht. Rathäuser und Kindergärten, Schulen und Museen konnten nicht mehr betreten werden.

Und es blieb nicht bei dem einen, alle und alles erschütternden Beben. Tagelang grummelte, zuckte und knirschte die Erde weiter, ein einziger „Incubo“ (Alptraum) war das für die Menschen in den ansonsten so ruhig dahinlebenden, in den heißen Sommermonaten auch dahindämmernden Dörfern in der Region zwischen Ferrara und Modena. Sieht man einmal von der extrem feuchten Hitze in den Sommermonaten und der ebenso leidigen feuchten Kälte im Winter ab, lebt man gut in dieser Gegend. Hier wird wunderbar gut ( und gerne ) gekocht. Man muss die Älteren fragen, wie das war in den fünfziger, sechziger Jahren, als man tagelang die Hand nicht vor den Augen sah, weil der Nebel im Herbst von morgens bis abends die Städte und Dörfer entlang des Po in dicke Watteballen hüllte. Was wären die frühen Filme eines Michelangelo Antonionis, die Romane eines Riccardo Bacchelli oder Giorgio Bassani, die Fotografien eines Luigi Ghirri ohne den ständig präsenten Nebel?

Dunstige und verhangene Tage gibt es auch heute noch in der Emilia, aber man muss nur zum Beispiel die Schornsteine der Chemieindustrie am Horizont vor Ferrara sehen, um zu erfahren, woher diese klebrigen, undurchsichtigen Stimmungen an den Herbstabenden kommen.

Nirgendwo sonst in Italien sieht man auf den kleinen Nebenstraßen, auch in manchen Städten, so viele Fahrräder wie in der Emilia Romagna. Sobald man aber die abseits gelegenen Straßen verlässt, donnert ein Schwertransporter nach dem anderen über die traditionsreiche Via Emilia oder Via Romea. Rote Fahnen flattern immer noch in vielen Gärten, aber hier wohnen keine Kommunisten mehr, die stolz ihr politisches Bekenntnis zur Schau stellen. „Terra Rossa“ ist die Emilia Romagna geblieben, aber schaut man genauer hin, entdeckt man nicht mehr Hammer und Sichel auf den Fahnen, sondern das Firmenemblem von Ferrari, dessen Hauptsitz sich auch in der Emilia (in Maranello bei Modena) befindet.

Die Mehrheit der Kommunen in der Emilia Romagna wird immer noch von politischen Parteien regiert, die man irgendwie als „links“ bezeichnen kann – was immer das heute noch heißen mag. Berlusconi und die rechtspopulistische Lega Nord finden jedenfalls hier keinen fruchtbaren Boden. Aber auch diese politisch linke Hegemonie schmilzt mit jeder Wahl immer mehr. Abgesehen von den älter und alt gewordenen Genossen will sich hier niemand mehr „Kommunist“ nennen.

„Peppone“, der von Giovanni Guareschi (auch er ein „Emiliano“) erfundene kommunistische Parteifunktionär mit stalinistischen Allüren und katholischem Glauben, ist längst zu einer Postkartenfigur geworden wie auch sein listiger katholischer Widerpart Don Camillo. Wenn es überhaupt noch in jedem Dorf einen Pfarrer gibt, dann kommt dieser heute oft aus Polen oder Afrika.

Es gibt entsakralisierte Kirchen, in denen Antiquitäten untergebracht sind oder die als Schuppen für Landmaschinen dienen. In manchen Kleinstädten leben heute ebenso viele Muslime wie praktizierende Katholiken. Evangelikale Sekten versuchen vor allem über das Fernsehen Mitglieder für ihre Kirchen zu gewinnen.

Gewalt und Bauspekulation, Rassismus und Egoismus sind auch in dieser Gegend in den letzten Jahren immer spürbarer geworden. Vieles von dem alten Mythos dieser „roten Zone“ ist tatsächlich längst vergilbt und vergangen. Aber mit dem ‚Terremoto’, dem Erdbeben  vom Mai 2012 ist auch wieder etwas von den alten kooperativen Stärken dieser Gegend spürbar und sichtbar geworden.

Ein großes Netz der Solidarität und des ‚Volontariato’, der freiwilligen sozialen Hilfen für die ‚Terremotati’ verbindet die einzelnen Gemeinden in diesen Wochen.  Man beginnt sich wieder und nicht ohne Stolz als ‚Emiliani’ zu verstehen. So wie es mir eine Freundin aus Ferrara sagte: “ Es ist sehr ermutigend, dieses neue Erwachen einer kollektiven Verantwortung zu spüren. .. Jetzt fühle ich mich als eine ‚Padana’, eine Bewohnerin der Po-Ebene, ohne eine Anhängerin der ‚Lega‘ zu sein.  

Wir danken Carl-Wilhelm Macke für den folgenden Beitrag, zumal Ferrara inzwischen zu seiner zweiten Heimat geworden ist. 

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