Vorerst missglückt

Der Moment, in dem die albanischen Lager bei Shengjin und Gjader eröffnet wurden, sollte für Giorgia Meloni zum Triumph werden – nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa. Am 18. Oktober war es so weit: Die ersten 16 Asylbewerber wurden auf einem schmucken italienischen Torpedoboot eingeliefert, von den Medien immer wieder abgelichtet als Beweis dafür, dass es Italien schafft, mit seinem „Problem“ fertig zu werden, und dafür eine Lösung gefunden hat, die für ganz Europa zum Modell werden kann. Nicht zu Unrecht, wenn es nach Ursula von der Leyen geht, die dem Projekt gleich ihr Gütesiegel verlieh, indem sie feststellte, dass hier „ein innovativer Weg zur Bekämpfung illegaler Migration“ gefunden sei, und auch europäische Schwergewichte wie Olaf Scholz Interesse zeigten.

Albanische Blamage

Dass von den 16 Insassen schon 4 bei der Aufnahme zurückgewiesen wurden (zwei Bangladeshi erwiesen sich als minderjährig, zwei Ägypter mussten als gesundheitlich gefährdet eingestuft werden) und sofort wieder ins Schiff nach Italien gesetzt wurden, schien da noch das Ergebnis einer bürokratischen Fehlleistung zu sein. Dann aber kam der Paukenschlag: Am 4. Oktober hatte der europäische Gerichtshof ein Grundsatzurteil erlassen, dass ein Herkunftsland nur dann als „sicher“ gelten könne, wenn es in keinem Landesteil und gegen niemanden zum „Mittel der Verfolgung, der Folter oder anderen unmenschlichen Behandlungweisen greift“. Eine bittere Pille für die italienische Migrationspolitik, denn sie bedeutet, dass von den 22 Herkunftsländern, die von Italien bisher als „sicher“ eingestuft wurden (was die Abschiebung erleichterte), 15 ab sofort als „nicht sicher“ einzustufen sind. Die ersten Konsequenzen ließen nicht auf sich warten: Schon wenige Tage später, Mitte Oktober, entschied ein römisches Gericht unter Verweis auf das Luxemburger Urteil, dass auch die restlichen 12 Asylbewerber nicht in das albanesische Lager gehörten, weil sie – mit Bangladesh und Ägypten – aus „nicht sicheren“ Herkunftsländern geflüchtet waren. Und in das albanische Lager sollen, so die erklärte Absicht der italienischen Regierung, nur Asylbewerber überstellt werden, die aus „sicheren“ Herkunftsländern stammen, also heiße Kandidaten für die Abschiebung sind. Mit dem EUGH-Urteil, so konnte man sich in Rom ausrechnen, würde den albanischen Lagern schnell der größte Teil ihrer geplanten Kundschaft ausbleiben, womit das Projekt, in das Italien in 5 Jahren erst einmal 800 Millionen Steuergelder investiert, auch ökonomisch zum Flop werden würde.

Man kann sich vorstellen, dass die italienische Regierung über das römische Urteil not amused war. Die Parteien, die sie tragen, sind „souveränistisch“; aus ihrer Sicht wollen sie doch einfach nur „die Grenzen sichern“, und da fällt ihnen ein europäisches Gericht in die Zügel, das seine Kompetenzen überschreitet, indem es bestimmen will, „welche anderen Länder nicht sicher sind“. „Richter müssen das Gesetz anwenden. Das ist ihre einzige Aufgabe“, sagt Melonis Justizminister Nordio. Die stellvertretende Vorsitzende des Richterbundes, Maddalena, sieht es andersherum: „Von uns fordert man, unsere Entscheidungen müssten der Regierungspolitik entsprechen, auch wenn sie rechtswidrig sind“. Aus Sicht der römischen Richterinnen und Richter haben sie nach geltendem Recht geurteilt, allerdings nach „nationalem wie übernationalem Recht“. Zur Sicherheit gab es am 18. 10. noch einmal ein Sprecher des EUGH zu Protokoll: „Für die Mitgliedsstaaten sind unsere Urteile sofort verbindlich“. Was bei Justizminister Nordio auf taube Ohren stößt.

Staatspräsident Mattarella versucht, die sich abzeichnende Krise zwischen politischer und richterlicher Gewalt, die auch zu einer Krise zwischen Italien und der EU werden kann, zu entschärfen, indem er alle Seiten zu Mäßigung und Kompromissbereitschaft auffordert. Auf wie wenig Unterstützung er dabei von der Regierung Meloni rechnen kann, zeigt ein versuchter Putsch, mit dem sie Einfluss auf die personelle Besetzung des italienischen Verfassungsgerichts zu nehmen suchte, der ein Rechtsverständnis zeigt, das mit demokratischer Gewaltenteilung unvereinbar ist.

Bedrohliches Referendum

Giorgia Meloni hat einen juristischen Berater namens Francesco Saverio Marini, den sie von ihrem politischen Ziehvater Fini erbte und der als der eigentlliche „Vater“ des Projektes gilt, das sie zum wichtigsten ihrer Amtszeit erklärte: das sog. „Premierato“. Mit ihm soll die Direktwahl des Regierungschefs durchgesetzt werden, was ihm gegenüber dem Staatspräsidenten und vor allem dem Parlament deutlich mehr Macht einbringen würde – ein Schritt zum Orbanismus, ein Schritt weg von der repräsentativen Demokratie, in deren Zentrum das Parlament steht. Hohe Bedeutung misst Meloni in diesem Zusammenhang auch der Reform zu, auf der vor allem Salvini beharrt, weil er es seiner Gefolgschaft versprochen hat: das Gesetz über die regionale „autonomia differenziata“. Obwohl es eigentlich schon alle parlamentarischen Hürden genommen hat, ist es noch auf ein Hindernis gestoßen: Laut italienischer Verfassung kann es durch den Einspruch von 5 Regionen oder ein Volksbegehren wieder außer Kraft gesetzt werden. Da sich inzwischen herumgesprochen hat, dass das Gesetz zu Lasten der ärmeren Regionen vor allem im Süden geht, gibt es inzwischen eine regelrechte Volksbewegung, die beides nutzen will: Zum einen legten fünf Regionen Einspruch ein (Emilia Romagna, Kampanien, Apulien, Toskana, Sardinien), zum anderen haben 1,3 Millionen Wahlberechtigte (500.000 hätten gereicht) unterschrieben, dass sie eine Volksbefragung (das sog. „abrogative Referendum“) über das Gesetz zur „differenzierten Autonomie“ verlangen. Für Salvinis Lieblingsprojekt bedeutet dies die Alarmstufe rot – um Meloni unter Druck zu setzen, verkündet er schon mal, dass ein Scheitern die ganze Rechtskoalition in Gefahr bringen würde.

Aktion „Blitz“

Also traten Melonis Krisenmanager auf den Plan, denen nun als erstes die Aufgabe zufällt, das Referendum gegen die „differenzierte Autonomie“ zu verhindern – als Morgengabe für Salvini, aber auch als Generalprobe für die noch bevorstehende „Mutter aller Schlachten“ um das „Premierato“, das wahrscheinlich auf ein ähnliches Referendum zuläuft. Ihren Ansatzpunkt sehen sie bisher vor allem darin, dass dem Verfassungsgericht im Zulassungsverfahren für „abrogative“ (d. h. ein Gesetz annullierende) Referenden eine wichtige Rolle zukommt: Es entscheidet über Zulässigkeit, Inhalt und Reichweite des jeweiligen Referendums und kann auch auf dessen Fragestellung Einfluss nehmen. Was Meloni und ihren Berater Marini auf eine naheliegende Idee brachte, an welcher Stelle hier noch corriger la fortune gespieltwerden könnte: Die Besetzung des Verfassungsgerichts muss in unserer Richtung geändert werden, Trump und Orban schafften das doch auch.

In Italien wird ein Drittel des 15-köpfigen Verfassungsgerichts vom Staatspräsidenten ernannt, ein Drittel vom Justizapparat und ein Drittel in gemeinsamer Sitzung von beiden parlamentarischen Kammern gewählt. Der Zufall will es, dass die Neuwahl eines dieser Richter gerade jetzt überfällig ist, während die Neuwahl von zwei weiteren Richtern in den nächsten Monaten ansteht. Wenigstens dieser eine Richter, meint Meloni, dessen Posten schon jetzt frei ist, könnte doch mein Berater Marini sein, um schon einmal im Verfassungsgericht zu versuchen, das drohende Referendum gegen die „Autonomia differenziata“ zu verhindern (oder zumindest zu verwässern), und um dort später auch seine eigenes Produkt – das Premierato-Gesetz – zu verteidigen. Das würde ihn zwar (1) in einen klassischen Interessenkonflikt bringen, und es würde sich (2) diametral gegen den Geist der Verfassung richten, der ein überparteiliches Verfassungsgericht will (dessen Mitglieder deshalb mit Mehrheiten gewählt werden müssen, die über der absoluten Mehrheit liegen –Absprachen mit der Opposition sind erwünscht).

Gegen den Geist der Verfassung

Mit dem Geist der Verfassung und Absprachen mit der Opposition hat Meloni wenig im Sinn: Sie will diesen Mann im Verfassungsgericht, obwohl er – das ist ihr klar – kein geeigneter Kandidat für eine Absprache mit den Oppositionsparteien ist. Also muss es mit der Brechstange gehen, auch wenn das jetzt gewählte Vorgehen abenteuerlich wird. Fehlen ihr an der notwendigen Drei-Fünftel-Mehrheit nicht nur zwei Handvoll Stimmen? 363 Stimmen braucht sie für die Wahl, über 357 verfügt sie, und auch wenn einige von ihnen unterwegs auf Reisen sind, müsste sich der Rest an den Rändern der Rechten irgendwie zusammenkehren lassen. Am 8. Oktober fand die gemeinsame Sitzung beider Kammern statt, die Meloni so vorbereitet hatte: Zunächst waren an den Vortagen Emissäre der Regierung ausgeschwärmt, um mögliche Überläufer zum Mitmachen aufzufordern – mit welchen „Belohnungen“, wissen wir nicht, aber Abgeordneten-Bestechung ist im italienischen Parlament nichts Neues, Berlusconi war ein Meister des Fachs. Zweitens wurde versucht, die Kandidatur Marinis bis zum letzten Moment geheim zu halten: Erst am späten Vorabend erreichte die Abgeordneten der Koalition die Nachricht, wen sie am Folgetag geschlossen zu wählen hatten.

Von der „Repubblica“ vorzeitig aufgedeckt

Aber der „Blitz“, wie der Manipulationsversuch gleich genannt wurde, flog noch vorher auf: Die „Repubblica“ hatte im letzten Moment Wind von ihm bekommen und die Anweisung der Regierung für das Abstimmungsverhalten ihrer Abgeordneten veröffentlicht, und dann kamen am 8. die ersten Nachrichten über die Versuche, die noch für die drei-Fünftel-Mehrheit fehlenden Stimmen von außerhalb ins Boot zu bekommen. Nun wurde auch von der Regierung das Ruder herumgerissen: Da Marinis Name nicht „verbrannt“ werden dürfe, sollten nun alle Abgeordneten der Koalition statt Zetteln mit dem Namen Marini leere Zettel abgeben, für sie war kollektive Enthaltung angesagt.

Der Versuch war dilettantisch und verräterisch zugleich. Die Absicht, Marini irgendwann doch noch in das Verfassungsgericht zu puschen, wurde nicht aufgegeben – der Abbruch wurde damit begründet, dass er nicht für einen späteren Neuanlauf „verbrannt“ werden dürfe, obwohl auch ein Blinder sehen müsste, dass er, beginnend mit seinem Interessenkonflikt, für einen Verfassungsrichter das „falsche“ Profil hat. Und obwohl auch das versuchte Mittel zu seiner Durchsetzung (eine Nacht-und-Nebelaktion, an den oppositionellen Parteien vorbei) dem Verfassungsziel zuwiderläuft, mit dem Gericht eine Institution zu schaffen, die zwar in Verbindung zum Parteiensystem steht, aber überparteilich bleibt.

Da ist es auch keine Beruhigung, dass demnächst die Wahl von zwei weiteren Abgeordneten in das Verfassungsgericht ansteht, und es Meloni nachgesagt wird, die Wahl ihres Rechtsberaters Marini nur als eine Art Probelauf für die Wahl zu sehen, in der es zumindest zahlenmäßig um noch mehr geht: die Wahl der nächsten drei Mitglieder des Verfassungsgerichts.

Zu einer funktionierenden Demokratie gehört die Gewaltenteilung, in der Justiz und Medien nicht nur die Aufgabe haben, die politische und ökonomische Macht zu ergänzen, sondern sie auch zu kontrollieren und zu begrenzen. Orbans hat sie vereinnahmt, um sie in den staatlichen Machtapparat zu integrieren – und nennt die daraus resultiende Gesellschaft stolz „illiberal“.

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