Der abgewählte Garant
Will Conte die heutige Besonderheit der „5Sterne-Bewegung“ hervorheben, die sie von allen konventionellen Parteien unterscheide, dann nennt er die „Partizipation von unten“, die für sie konstitutiv sei. Nicht zu Unrecht, wenn man nur den Anfang berücksichtigt, als sie aus vielen lokalen Initiativen gegen Korruption und lokale Umweltsünden entstand, und das Ende, als sich vor wenigen Tagen 80% der Abstimmenden mit einem Knopfdruck im Internet von ihrem Guru verabschiedeten. Die Sonderstellung von Grillo war es, welche die „Grillini“ anderthalb Jahrzehnte lang politisch in einem eklatanten Widerspruch leben ließ: zwischen dem emanzipatorischen Anspruch, dass in der Bewegung „alle gleich“ sind, und der Parallelexistenz eines „Wächters“, im 5Sterne-Jargon „Erhabenen“ („Elevato“), der über allem steht und die „Werte“ verteidigt, denen sich die „Bewegung“ aus seiner (!) höheren Einsicht verpflichtet hat.
Von Jesus unterscheidet sich Grillo zunächst in einem nicht ganz unerheblichen Punkt: Er ist ein reicher Mann. Sein heutiges Vermögen wird auf 185 Millionen Dollar geschätzt, die er vor allem in Villen in Italien, in der Schweiz und sogar in Afrika angelegt hat. Seinen Sonderstatus in der italienischen Politik verdankte er der Tatsache, dass er sich nie ganz in ihre Niederungen begab. Wohinter auch eine Tragödie stehen soll, für die er als 33-Jähriger die Hauptverantwortung trug: Er hatte im Dezember 1981 in den Bergen von Piemont fahrlässig Hinweise auf Glatteis ignoriert, die Kontrolle über sein neu gekauftes Auto verloren und drei Mitinsassen in den Tod gefahren, nachdem er selbst im letzten Moment ausgestiegen war. Angesichts dieser Vorgeschichte ist bemerkenswert, mit welcher Obsession er in späteren Jahren Politiker, die er vernichten wollte, in seinem Blog „Zombies“ oder „Tote“ nannte.
Grillos Prinzipien
Seine spätere Halbdistanz zur Politik, die er sich damals auch als eine Art Buße auferlegt haben soll, hat seiner politischen Karriere nicht geschadet, sondern eher genützt. Denn sie erlaubte es, dass er sich unter dem Schirm des „Wir sind alle gleich“ innerhalb der von ihm gegründeten Bewegung die Position des „Erhabenen“ („Elevato“) erarbeiten konnte, und er sich selbst aus dem Klein-Klein der Alltagspolitik heraushalten konnte, um zu intervenieren, wenn ihm eines seiner Grundprinzipien bedroht zu sein schien. Die Grenze zum Sektenführer waren fließend, als er z. B. in seinem Blog eine Kampagne gegen die Journalisten großer linksliberaler Zeitungen entfesselte, mit der impliziten Aufforderung, an ihrer Stelle nur noch seinen Blog zu lesen.
Das Unheil, das er mit den Grundprinzipien anrichtete, die vor allem seiner Intuition entsprangen, war beträchtlich. Dahinter stand die Idee, seine 5-Sterne-Bewegung könnte ein Vorkämpfer der „direkten Demokratie“ werden, und diese Idee feste Form zu finden schien, als sich Grillo mit dem PC-Unternehmer Gianroberto Casaleggio befreundete. Dessen Utopie war eine globale Demokratie, in der alles über Knopfdruck ohne die vielen Vermittlungen der repräsentativen Demokratie entschieden werden könne. Es war eine Vermischung von Technikglauben und Esoterik, mit dem individualisierten Weltbürger als Subjekt, die seine jungen Anhänger faszinierte. Die 5-Sterne-Bewegung sollte das Übungsfeld werden, auf dem schon mal diese direkte Demokratie erprobt werden konnte. Es dauerte ein paar Jahre, bis man merkte, dass die alten Probleme der direkten Demokratie auch durch die digitale Hintertür zurückkehrten: Wer setzt die Regeln fest, wer formuliert die Fragen, wer interpretiert die Ergebnisse.
Weder links noch rechts
Die zweite Idee, mit der Grillo die „Bewegung“ heimsuchte, war ihre Verortung in dem gegebenen politischen Spektrum Italiens. „Weder links noch rechts“, war die Direktive, sondern „progressiv“, wobei zunächst der Unterschied unklar blieb. Was allerdings schnell klar wurde, betraf ihr Verhältnis zur PD: Je besser ihre eigenen Wahlergebnisse wurden, desto entschiedener wies sie die Bündnisangebote ab, die von dieser Seite kamen. Ihren Gipfel erreichte diese Politik nach den nationalen Wahlen von 2018, deren großer Überraschungssieger die 5Sterne wurden und sich diese sofort mit Salvinis Lega als Juniorpartner zusammentaten, für eine von der „Bewegung“ geführte Koalitionsregierung.
Aber nicht die „Bewegung“, sondern Salvini war es, der von diesem Zusammenschluss vor allem profitierte: Er wurde zum Innenminister und tat in dieser Funktion das, was er schon seit Jahren durch eine gnadenlose Stimmungsmache gegen die „Invasion der Drogendealer und Vergewaltiger“ aus Afrika vorbereitet hatte: Er inszenierte sich als Retter des Vaterlands, indem er die Häfen blockierte, und hatte damit bei der Wählerschaft Erfolg.
Die rechtslinke Beliebigkeit, die Grillo seiner Bewegung verordnet hatte, wurde ein zweites Mal deutlich, als Salvini ein Jahr später nach einer hoch gewonnenen Europawahl glaubte, Neuwahlen erzwingen zu können, von denen er sich eine Art Alleinherrschaft erhoffte. Als er dafür die Koalition mit der 5SB platzen ließ, zeigte die „Bewegung“ eine Wendigkeit, mit der auch Salvini nicht gerechnet hatte: Mit der gleichen Nonchalance, mit der sie das Bündnis mit Salvini eingegangen war, erwählte sie sich nun als neuen Koalitionpartner die PD, das politische Gegenteil. Bei der Aufarbeitung ihres Salvini-Abenteuers ersetzte sie Analyse durch Empörung: Salvini war ein „Verräter“, der bestraft werden musste.
Das dritte Mandat
Dann gab es noch ein drittes Steckenpferd, das Grillo bei seiner Beschäftigung mit der „Bewegung“ verfolgte (die er sich zum Schluss als eine Art Entschädigung mit einem Beraterhonorar von 300.000 € vergüten ließ): Da aus seiner Sicht die professionellen Politiker eine „Kaste“ der Verdorbenheit bilden – das Amt verdirbt den Charakter -, verfügte er, dass kein Vertreter der 5SB sich öfters als zweimal in ein politisches Amt wählen lassen dürfe. Das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und im Amt erworbener Kompetenz suchte in ihrer Entstehungszeit auch die deutschen Grünen heim. Sie lösten es letztlich pragmatisch, während Grillo, der niemals ein Wahlamt hatte, mit religiösem Eifer bis zu seinem politischen Ende am vermeintlich demokratischen Purismus festhielt. Es war der Punkt, an dem er den Kontakt zur 5SB verlor.
Grillos Konflikt mit Conte
Letzten Endes war es Giuseppe Conte, der selbsternannte „Advokat des Volkes“, ein in der Bewegung wie in der Öffentlichkeit unbeschriebenes Blatt, der zum Gegenspieler von Grillo wurde. Seinen Aufstieg hatte Conte dem Wahlsieg der „Grillini“ von 2018 zu verdanken, die in beiden Kammern vier Jahre lang über die relative Mehrheit verfügten und im Tandem zwischen Di Maio und Salvini einen Ministerpräsidenten aus der Tasche zaubern mussten, und dabei, wie es scheint, eher zufällig auf Conte verfielen. Er konnte sei ne Position festigen, als es ihm Anfang 2019 gelang, im Parlament das Projekt „Reddito di cittadinanza“ durchzusetzen, der für die sozial schwächeren Schichten eine ArtGrundsicherung – vor allem im Süden – einführte, und als er in den Folgejahren Italien relativ erfolgreich durch die Schrecken der Pandemie führte, obwohl es auch dagegen in dem wundergläubigen Land viele Widerstände und Scharlatane gab. Salvinis missglückter „Verrat“ von 2019 brachte die 5Sterne nicht in ruhigere Gewässer, zumal sich die Hoffnung der PD, sich nun in den 5Sternen einen „strukturellen“ Bündnispartner heranziehen zu können, als Illusion erwies: Anfang 2021 verließ Renzi mit einer kleinen Gruppe von Abgeordneten die PD, die der Mittelinks-Regierung die parlamentarische Mehrheit nahm. Conte sah sich ein zweites Mal um den Wahlsieg von 2018 betrogen und trat – offenbar zähneknirschend, es gab viele Austritte bei der 5SB – mit der PD, der Lega und Berlusconis Forza Italia der nationalen Koalition um Draghi bei.
Der Machtkampf beginnt
Im Sommer 2021 begann der Machtkampf zwischen Grillo und Conte. In den vorhergehenden Jahren, in denen Conte als eine Art Geschäftsführer der „Bewegung“ agierte, war sein Rückhalt bei ihren Aktivisten gestiegen, während man die Rolle Grillos kritischer zu sehen begann, insbesondere in der Frage des dritten Mandats, an dessen Abschaffung Grillo um jeden Preis festhalten wollte – für ihn war es eine Frage der Identität. Der Streit begann erstmals zu eskalieren: Beide warfen sich vor, die Bewegung beherrschen zu wollen. Grillo ließ verlauten, dass Conte weder organisieren könne noch zu Innovationen fähig sei, und Conte, den sein inzwischen erworbenen Rückhalt in der Bewegung mutig machte, erklärte sich nur noch zur Führung bereit, wenn Grillos Rolle „besser definiert“, d. h. verkleinert werde. Da man eine weitere Spaltung befürchtete, kam es Ende 2021 zu einem letzten Kompromiss: Conte wurde „Präsident“ der Partei, während Grillo ein paar Kompetenzen abgab, die mit seiner Rolle als „Garant“ verbunden waren. Wobei die Partei Grillos einen für sein Ansehen nicht ganz unwichtigen Fehler beging: Als Aufwandsentschädigung für die vergangenen Mühen sollten Grillo von der Bewegung 300.000 € erstattet werden.
Der Kompromiss hielt drei Jahre, dann brach der Konflikt wieder auf. Die Aktivisten haderten weiterhin mit Grillos Tabu des dritten Mandats und stellten auch zunehmend das dahinter stehende Demokratie-Konzept in Frage. Im Sommer warf Conte seinen Fehdehandschuh in die Arena: Die Gesamtheit der Mitglieder sollten in einer von ihm einberufenen „konstituierenden Versammlung“ die Frage entscheiden. Und brach gleichzeitig noch ein weiteres Tabu: Braucht die Bewegung wirklich einen „Garanten“, der als „Erhabener“ über allem steht? Sind wir nicht alle gleich, und sollten wir und das nicht durch eine gemeinsame Abstimmung betätigen?
Gleichzeitig sank die 5SB wieder in der Wählergunst. Dem Kantersieg von 2018 (32,7%) folgte bei der Europawahl von 2019 ein Einbruch auf 17,1% und bei der nationalen Wahl von 2022 auf 15,6%, wobei den Strategen der 5SB vor allem ein Vergleich wichtig war: mit der PD, der „linken Konkurrenz“, welche die 5SB 2018 schon in die Marginalität abgedrängt zu haben schien. Aber mit einer neuen Führung (Elly Schlein) gelang der PD nicht nur die Regeneration, sondern den Rückstand gegenüber der 5SB wieder in einen klaren Vorsprung zu verwandeln.
Probleme mit der Einheitsfrontpolitik
Was die um ihre Eigenständigkeit kämpfende 5SB vor allem in Schwierigkeiten bringt, ist die Einheitsfrontpolitik der PD gegen rechts: Lässt sich die 5SB auf die Bündnisangebote ein, fährt sie (wie gerade bei den Regionalwahlen durchgespielt) gemeinsame Erfolge ein, aber es ist letztlich die PD, die dabei letztlich zulegt. Was deshalb das Verhältnis der 5SB zur PD bestimmt, ist das Bestreben, neben dem gelegentlichen Eingehen auf die Bündnisangebote immer wieder nach Alleinstellungsmerkmalen zu suchen – die 5SB war es, die 2020 gegen den Willen der PD die Initiative zum Sturz Draghis ergriff (vorgeschobener Grund: Bau einer Müllverbrennungsanlage in Rom). Nun ist es die Friedensfrage. Abgesehen von Salvini, dessen Lega inzwischen zur offenen Hilfstruppe Putins geworden ist, ist Conte zur einzigen Partei Italiens geworden, die sich für einen Frieden in der Ukraine ohne Waffenlieferungen einsetzt. In der Frage, welche Auswirkungen dies auf die Weiterexistenz der Ukraine hätte, steckt sie den Kopf in den Sand, wohl wissend, dass sie sich damit für die Kapitulation der Ukraine einsetzt.
Die 5Sterne-Bewegung hat sich von Grillo getrennt, worin für die Partei auch eine Chance steckt, zumal sie sich bei dieser Gelegenheit auch von der Fessel der zwei Mandate befreit hat. Aber noch ist sie Grillos sonstiges Erbe nicht los, vor allem seine schon fast pathologische Suche nach der Besonderheit. Sie könnte die Hegemonie der Rechten verewigen.