Polizeiterror
Was sich vor einer guten Woche im Grand Hotel von Rimini abspielte, erhellt blitzartig den Zustand des italienischen Rechtssystems. Die SAP, die zweitgrößte („autonome“, allgemein als „rechts“ eingestufte) Polizeigewerkschaft Italiens – in der von insgesamt 94 000 Polizisten, die es in Italien gibt, 18 000 organisiert sind -, hielt ihren Jahreskongress ab. Sie hatte dazu drei Gäste geladen und begrüßte sie mit einer nicht enden wollenden Ovation. Viele erhoben sich von ihren Plätzen – aus „menschlicher Solidarität“, wie hinterher erklärt wurde.
Ein Totschlag vor neun Jahren
Wen sie da geladen hatten, war nicht irgendwer, sondern drei Polizisten, die 2012 wegen fahrlässiger Tötung zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden waren. Von denen sie allerdings nur ein halbes Jahr absitzen mussten – der Rest wurde ihnen wegen Überfüllung der Gefängnisse erlassen. Gegen dieses Gerichtsurteil, für die SAP-Delegierten ein Schandurteil, richtete sich die „menschliche Solidarität“.
Die Vorgeschichte, wie sie die Gerichte rekonstruiert hatten: Am frühen Morgen des 25. 9. 2005 stirbt in Ferrara der 18-jährige Federico Aldrovandi. Wohl unter Drogeneinfluss befindet er sich in einem Zustand „psychophyischer Erregung“. Als er auf vier Polizisten trifft, versucht er einen Karate-Schlag, der ins Leere geht. Von da an hat er keine Chance mehr. Die vier fallen mit ihren Schlagstöcken über ihn her und bearbeiten ihn gemeinsam. An vielen Stellen getroffen geht er zu Boden, sie werfen sich auf ihn und schlagen weiter – etwa eine halbe Stunde lang, wie anschließend einer von ihnen den Vorgesetzten meldet. Ihr Körpergewicht macht Federico bewegungsunfähig, eine Handy-Aufnahme dokumentiert optisch und akustisch seine Hilfeschreie. Aber die vier lassen nicht von ihm ab und schlagen weiter, bis er stirbt. Sie haben ihn totgeschlagen.
Der Kampf der Mutter um die Wahrheit …
Gewöhnlich spricht man hier vom „Einzelfall“, bei dem frustrierte Polizisten „überreagiert“ hätten. Und ebenso gewöhnlich bleibt es bei einem Verweis, Spuren werden vertuscht, der Fall versandet. Auch im Fall Federico Aldrovandi wurde es zunächst versucht – das erste Autopsie-Ergebnis lautete, die Todesursache sei ein Drogen-„Schock“ gewesen. Aber die Dinge entwickeln sich anders. Die Mutter von Aldrovandi, Patrizia Moretti, gibt keine Ruhe und erreicht 4 Jahre nach dem Totschlag, also 2009, die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen die vier Polizisten. Es endet 2012 nach drei Instanzen mit der Verurteilung der Polizeischläger. Die Mutter zeigt Mut und Beharrlichkeit, obwohl Kollegen der Angeklagten sie mit ihrem Korpsgeist einzuschüchtern suchen, indem sie unter anderem ein Sit in vor ihrem Arbeitsplatz inszenieren.… und um rechtliche Konsequenzen
Mit der rechtskräftigen Verurteilung ist der Fall nicht zuende. Da die vier Polizisten nur wegen fahrlässiger Tötung, nicht aber wegen Misshandlung angeklagt werden konnten – im italienischen Strafrecht fehlt dafür die Grundlage -, soll dieser Straftatbestand nun endlich gesetzlich verankert werden. Und es soll auch möglich werden, Polizisten aufgrund derartiger Vergehen auf Lebenszeit vom Dienst zu suspendieren – die Polizisten, die Federico Aldrovandi umbrachten, nahmen unmittelbar nach ihrer Haftentlassung wieder ihren Dienst auf (wenn auch „erst mal nur am Schreibtisch“). Polizeiliche Übergriffe im Schutz der Anonymität haben in Italien Tradition und häufen sich jetzt wieder. Also wird die Forderung nach ihrer Kennzeichnungspflicht lauter (dies fordert inzwischen auch das Europaparlament). Patrizia Moretti ist zu einer Vorkämpferin solcher rechtlicher Konsequenzen geworden. Die SAP und zwei andere autonome „rechte“ Polizeigewerkschaften sehen darin eine öffentliche Treibjagd und drohen mit Arbeitsverweigerung. Die Ovation, mit der die SAP drei der vier Polizisten bei ihrem Jahreskongress bedachte, war eine Demonstration. Die aus Sicht seiner Mutter Federico zum zweiten Mal tötete.
Das Rechtssystem ist krank
Schon mehrmals schrieben wir in diesem Blog, dass eine der wenigen in Italien noch funktionierenden Dinge das Rechtssystem sei. Wir taten es unter dem Eindruck der Beharrlichkeit, mit der sich die Gerichte auch mit Mächtigen wie Berlusconi anlegten. Wir müssen einsehen, dass dies nur teilweise wahr ist. Ein Rechtssystem funktioniert nur, wenn es in ein allgemeines Rechtsbewusstsein eingebettet ist, für das Grundrechte wie die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und die Unversehrtheit der Person sakrosankt sind. Das Phänomen Berlusconi zeigt, wie fragil und zerbröckelt es bereits ist – nicht nur wegen der Person von B., der es „von oben her“ auszuhebeln sucht, sondern auch wegen der Millionen Wähler, die ihm auch darin immer noch folgen. Und wegen eines Strafvollzugs, der eben doch mit zweierlei Maß misst. Ein weiterer Baustein des Rechtssystems sind die staatlichen Ordnungskräfte. Wenn diese beginnen, nicht mehr den Bürgern, sondern in erster Linie ihrem eigenen Korpsgeist zu dienen, zerbricht es auch von innen her.
Mit den Totschlägern von Ferrara kann nicht die gesamte italienische Polizei identifiziert werden. Der Kampf gegen die Mafia forderte nicht nur unter unschuldigen Bürgern und Richtern, sondern auch unter Polizisten seine Opfer. In der letzten Woche starb der neapolitanische Polizeikommissar Roberto Mancini an Lymphkrebs, weil er in der von der Camorra verseuchten Erde um seine Stadt immer wieder – auch aus eigenem Antrieb – den Boden untersucht hatte. Viele Polizisten sehen ihre Arbeit weiterhin als Dienst am Bürger. Aber es gibt eben auch die Kehrseite. Jeder dritte Polizist ist entweder Mitglied der SAP oder einer anderen („rechten“) Gewerkschaft, die den Fall Aldrovandi wie die SAP beurteilt. Es muss noch einiges geschehen, bevor aus Italien ein Rechtsstaat wird. Bis dahin bleibt es Glückssache, wem der Bürger begegnet, wenn er auf staatliche Ordnungskräfte trifft.