Der versuchte Dreh


Verfassungswirklichkeit

Der ehemalige Präsident des italienischen Verfassungsgerichts Zagrebelsky kommentiert („Repubblica“ vom 16. 11.):

„Das Bizarre an Berlusconis Forderung, nur eine der beiden Kammern aufzulösen, also ohne wirklichen Rücktritt und ohne Erkundung, ob eine alternative Regierungsbildung möglich ist, erklärt sich aus den spezifischen und traurigen Bedingungen unserer Verfassungswirklichkeit. Wir sind ein Land, in dem die Regierung aus Leuten besteht, die anderswo politisch inexistent wären; und die von einem einzigen Mann zusammen gehalten wird, der aus strafrechtlichen Gründen auf den von dieser Position gewährten Schutz angewiesen ist. Der sie nicht einmal einen Moment lang aufgeben kann, auch wenn es die politische Lage eigentlich nötig macht, dass er zur Seite tritt. Wie sich die Auster an den Felsen klammert. Ein großer Teil der gegenwärtigen institutionellen Probleme hat hierin seine ebenso schlichte wie abnorme, uns alle beschämende Ursache“.


Um die gegenwärtigen Ereignisse in Italien zu verstehen, ist zu bedenken:

  • Es gibt zwei Kammern, das Parlament und den Senat, die auf unterschiedlichen Wegen gewählt werden, aber bei der Gesetzgebung und Vertrauensabstimmungen gleiche Kompetenzen haben.
  • Durch das Ausscheren der Fini-Gruppe (Futuro e Libertà) verlor die Regierung die Mehrheit im Parlament, aber vorerst nicht im Senat.
  • Im Zentrum zeichnet sich ein neues Parteienbündnis um Fini, Casini und Rutelli ab, das so auch bei Neuwahlen antreten wird. Ein breites Anti-Berlusconi-Bündnis „von Vendola bis Fini“ wird es wahrscheinlich nicht geben.
  • Fänden jetzt Neuwahlen mit dem geltenden Wahlgesetz (der „Porcata“) statt, hätte die Koalition von PdL und Lega immer noch die Chance, im Parlament die absolute Mehrheit zu erhalten. Denn die „Porcata“ spricht dem Bündnis, das hier die relative Mehrheit erringt, 55 % der Sitze zu, auch wenn es weitaus weniger Stimmen erhält.
  • Im Senat, wo die Berlusconi-Koalition noch die knappe Mehrheit hat, wäre sie durch Neuwahlen gefährdet, weil es dort keine „Mehrheitsprämie“ auf nationaler Ebene gibt.
    Ein Stand der Dinge, der Regierung und Opposition Möglichkeiten zur wechselseitigen Blockade bietet. Die Regierung braucht für jedes Gesetz die Zustimmung beider Kammern – und bekommt sie jetzt im Parlament nur noch dann, wenn sie sich zuvor mit einem Teil der Opposition einigt.

Aber auch die Handlungsmöglichkeiten der Opposition sind eingeschränkt:

Wahlgesetz. Alle Oppositionsparteien sind sich darin einig, dass die „Porcata“ abgeschafft werden muss. Sonst kann sie B. permanent mit der Drohung von Neuwahlen erpressen, auch wenn diese für ihn selbst noch mit einer Unsicherheit – dem möglichen Mehrheitsverlust im Senat – verbunden wären. Aber eine Änderung des Wahlgesetzes bedarf der Zustimmung beider Kammern, und es scheint, dass sie gegenwärtig im Senat nicht zu bekommen ist.

Misstrauensantrag gegen die Regierung. Nach Art. 94 der Verfassung braucht die Regierung das Vertrauen beider Kammern. So trat die Regierung Prodi 2008 nach nur zweijähriger Amtszeit zurück, als sie eine Vertrauensabstimmung im Senat, nicht aber im Parlament verlor. Entsprechendes wäre nun auch von der Berlusconi-Regierung nach dem Verlust der Mehrheit im Parlament zu erwarten.

B., der es mit der Verfassung nicht so genau nimmt, ist anderer Meinung: Wenn es für ihn im Parlament keine Mehrheit mehr gibt, dann umso schlimmer fürs Parlament. Dann muss eben nur das Parlament neu gewählt werden, während er im Amt bleibt. Ein fast genialischer Dreh, denn er würde damit drei Fliegen mit einer Klappe schlagen: keine Neuwahl des Senats, deren Ausgang unsicher wäre; keine Änderung des Wahlgesetzes; und Neuwahlen nur für das Parlament, die für ihn bei diesem Wahlgesetz vielleicht noch zu gewinnen sind.
Dies ist jedoch verfassungswidrig. Und bei alledem hat auch noch der Staatspräsident ein Wörtchen mitzureden. Sein Gespräch mit beiden Kammerpräsidenten hatte jetzt das Ergebnis: Zunächst muss das Haushaltsgesetz für 2011 verabschiedet werden. Das hatte B. im Kampf um die Macht bisher ganz „vergessen“, es ist überfällig. Und anschließend, am 14. Dezember, wird in beiden Kammern über die Vertrauensfrage entschieden. Dann ist die Krise „offiziell“.

Somit bleiben B. noch mehr als drei Wochen Zeit, um seine Medienmaschine anzuwerfen. Um seine Mehrheit im Senat zu sichern. Und um den vielleicht noch schwankenden Fini-Anhängern im Parlament Angebote zu machen, „die sie nicht ablehnen können“.

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