Italien in Zeiten des Coronavirus

Italien ist mit Abstand das europäische Land mit den meisten festgestellten Infektionen. Die Zahl liegt inzwischen (Stand 1. März) bei über 1.500, Tendenz steigend. Bisher gab es 34 Todesfälle. Die Erkrankungen konzentrieren sich vor allem auf zwei Gebiete: eines in der Lombardei mit Zentrum Codogno, eins in Venetien mit Zentrum Vo‘. Vermehrt gibt es auch Fälle in der Emilia Romagna, weniger im Süden. Der Weg zurück zum Ausgangspunkt der Infektionsübertragung (dem sog. „Patient 0“) ließ sich nicht rekonstruieren, was die Eingrenzung von Kontaktpersonen, die sich vielleicht ebenfalls infiziert haben, unmöglich macht.

Sonderfall Italien – woran liegt es?

Über die Gründe, warum gerade Italien besonders stark betroffen ist, gibt es verschiedene Hypothesen. Eine lautet, das läge daran, dass Italien – im Unterschied zu anderen Ländern – sehr früh und sehr breit Rachenabstriche zur Feststellung einer möglichen Infektion durchführte (nach dem Motto: „Wer sucht, der findet. Wer nicht sucht, findet auch nichts“). Ein Vorgehen, der inzwischen trotz steigender Zahlen korrigiert wurde. Man werde von nun den Empfehlungen der WHO folgend nur bei denjenigen Tests vornehmen, die Infektionssymptome zeigen und aus einem Risikogebiet kommen. Wobei man sich fragt, warum man nicht von Anfang an dieser Empfehlung folgte. Es liegt nahe, dass die jetzige Kursänderung eine Reaktion auf die wachsende „Virus-Hysterie“ in einem Teil der Bevölkerung und auf die zunehmenden Restriktionen des Auslands gegenüber Italien ist.

Es gibt auch andere Faktoren für den in Italien besonders auffälligen Anstieg der Infektionen. Dazu zählt, dass in Italien das Gesundheitswesen fast ausschließlich in der Verantwortung der Regionen liegt und die Zentralregierung dabei wenig zu sagen hat. Bei einem nationalen Notstand hat dies, wie sich jetzt zeigt, schwerwiegende Nachteile: sowohl bei der Gesamtkoordination als auch bei der Planung und Umsetzung einheitlicher Präventions- und Interventionsmaßnahmen.

Militär an der Grenze einer Sperrzone

Militär an der Grenze einer Sperrzone

So kam es je nach Region zu unterschiedlichen Vorgehensweisen und zum Teil absurden Entscheidungen einzelner Regionspräsidenten. Der Gouverneur der Region Marken zum Beispiel ordnete die Schließung aller Schulen an, obwohl in seiner Region kein einziger Infektionsfall festgestellt wurde. Auch die Entscheidung der Regierung, als erste Maßnahme alle Flüge aus China zu blockieren, ist umstritten. Experten sagen, es habe lediglich dazu geführt, dass aus China kommende Passagiere andere Zwischenflughäfen benutzten – unkontrolliert. Richtig wäre es gewesen, was der WHO empfahl, nämlich die Fluggäste an ihrem Reiseziel zu kontrollieren.

Gefahr für die Wirtschaft und Antwort der Regierung

Trotz der Einrichtung eines Zentralstabs und eines Sonderkoordinators hat die Regierung Probleme, sich in diesem Gewirr die notwendige Autorität zu verschaffen, zumal sich einige Gouverneure der oppositionellen Lega bewusst „quer stellen“. Sie hat für die Gebiete rund um die Infektionsherde inzwischen militärisch bewachte „Sperrzonen“ eingerichtet und damit über ca. 50.500 Einwohner eine Quarantäne verhängt. Die Bevölkerung, auch jenseits der betroffenen „Krisengebiete“, reagiert zunehmend verunsichert, manchmal hysterisch. In einigen Orten kommt es zum Sturm auf Supermärkte und Apotheken, die Lage ist angespannt.

Es gibt massive Probleme für die örtlichen Betriebe und Bauernhöfe. In den Sperrzonen werden Fleisch- und Milchprodukte – u. a. hochwertige Schinken, Grana Padana, Gorgonzola und andere Käsesorten – nicht nur für Italien, sondern auch für den weltweiten Export produziert. Jetzt bleiben Bestellungen aus oder werden storniert, wohl aus der unsinnigen Befürchtung, die Produkte könnten kontaminiert sein. Viele Betriebe und Höfe haben schon dicht gemacht, andere versuchen noch, der Krise zu trotzen.

Negative Auswirkungen auf die Wirtschaft gibt es nicht nur in den Sperrzonen, sondern auch auf nationaler Ebene. Im Transport- und Modebereich gibt es eine Reduzierung um 20%, beim Tourismus um 40%. Geschäfte, Hotels und Restaurants schließen wegen ausbleibender Kundschaft. Dass gerade die Nordregionen besonders betroffen sind, verschärft die Lage. Denn von dort kommen ca. 41% des nationalen BSP. Ratingagenturen und der italienische Unternehmerverband „Confindustria“ schätzen, dass der bereits bestehende negative Trend (- 0,3% des BSP im letzten Quartal 2019) durch den „Virus-Faktor“ um weitere 0,2 bis 0,4%-Minuspunkte verstärkt wird.

Die Regierung versucht, mit Sondermaßnahmen die entstandenen Probleme abzufedern. Zunächst wurden die Bewohner und Betriebe in den Sperrzonen übergangsweise von Steuern und Gebühren befreit, kleine Selbständige erhalten einen „Virus-Bonus“ von 1.500 Euro. Am vergangenen Dienstag hat das Kabinett die sog. „Phase 2“ eingeleitet: ein Sonderpaket im Umfang von 3,6 Milliarden für die am meisten betroffenen Regionen, um dort die Beschäftigung und die Produktion anzukurbeln und die öffentlichen Infrastrukturen, vor allem im Gesundheitswesen, auszubauen. Sollte sich die Lage weiter verschärfen, ist nach Auskunft von Finanzminister Gualtieri (PD) eine „Phase 3“ geplant, in der Italien aufgrund „außerordentlicher Umstände“ bei der EU eine stärkere Flexibilität in Bezug auf die Defizitgrenzen und die Einhaltung des Stabilitätspakts beantragen will.

Der Virus wird politisch instrumentalisiert

Die Opposition, allen voran Legachef Salvini, versucht aus der Corona-Krise Kapital zu schlagen. Die Ineffizienz der Regierung und besonders von Ministerpräsident Conte sei Schuld an der Ausbreitung der Epidemie und an den Folgen für die Wirtschaft, so Salvini. Dass seine Vorwürfe gegenüber der Regierung ständig wechseln und sich widersprechen, kümmert ihn nicht. Mal behauptet er, die getroffenen Maßnahmen seien viel zu lasch und man müsse „alle Grenzen Italiens komplett dicht machen, alles kontrollieren, blockieren!“ (was Unsinn ist, da die Infektionsherde längst in Italien sind), mal fordert er, es müsse Schluss sein mit der Lahmlegung eines ganzen Landes, das schade nur der Wirtschaft. „Bringt wieder Leben in die Städte, macht die Supermärkte, die Kinos, die Hotels, die Geschäfte wieder auf!“, tönt er in Videos auf Facebook.

Die Angriffe, egal wie begründet, zielen darauf, die von Conte geführte Regierung durch eine „Notstandsregierung“, an der alle Parteien beteiligt sind, zu ersetzen, mit Neuwahlen im Herbst. Bei denen er sich, trotz leichter Verluste laut Umfragen, bereits als Sieger sieht.

Bei der Verfolgung dieses Ziels kann Salvini bemerkenswerterweise auch auf Verbündete aus dem Regierungslager zählen. Es ist wieder Renzi, der als Leader seiner Minipartei „Italia viva“ ebenfalls daran arbeitet, die Conte-Regierung zu demontieren. Da seine Partei bei Umfragen zwischen 3 und 4% liegt, ist er allerdings gegen schnelle Neuwahlen, bei denen er wahrscheinlich an der 5%-Hürde scheitern würde. Ohne Conte bei einer „Notstandregierung“ mitzumischen würde ihm hingegen gefallen, auch wenn das bedeuten würde, gemeinsame Sache mit Rechtsextremen und Rassisten zu machen. In den Medien heißt es, entsprechende „informelle Kontakte“ seien zwischen den „zwei Matteos“ schon längst im Gange. Allerdings dürften sie dabei die Rechnung ohne den Wirt machen, der Mattarella heißt und alles in seiner Macht Stehende tun wird, um einen Regierungswechsel in der gegenwärtigen Krisensituation zu verhindern.

Rolle der Medien und Virus-Psychose

Dass die Menschen in Italien angesichts der Lage sehr besorgt sind, ist ebenso verständlich wie berechtigt. Doch inzwischen hat sich in Teilen der Bevölkerung die Sorge in Panik und Hysterie verwandelt. Bei denen nicht selten eine gute Portion Rassismus zu Tage tritt. Vorher waren es „die Neger“, jetzt sind es „die Chinesen“, weil sie „an der Epidemie schuld“ sind. An verschiedenen Orten wurden chinesische Bürger beschimpft, angespuckt, tätlich angegriffen. Die faschistische Forza Nuova klebte an die Eingänge chinesischer Geschäfte Zettel mit „Kauft nicht bei Chinesen!“, wie einst bei den Juden. Mütter verlangten in Kindergärten den Ausschluss chinesischer Kinder. Den Vogel schoss Zaia (Lega) ab, der Gouverneur der Region Venetien, der im Fernsehen verkündete: „Wir haben doch alle in Videos gesehen, dass Chinesen lebendige Mäuse essen“ (als dies zu einem Protest des chinesischen Botschafters führte, entschuldigte er sich „für das Missverständnis“). Jetzt erleben die Italiener allerdings selbst, was es bedeutet, misstrauisch beäugt und ausgegrenzt zu werden.

Zur Entstehung der „Virus-Psychose“ trugen – neben den üblichen Delirien im Netz – auch Presse und Fernsehen bei. Es gibt in Italien eine spezifische – nach meiner Meinung unsägliche – Art der Berichterstattung, die man als „Überflutungssucht“ bezeichnen könnte. Wenn ein Thema in den Vordergrund rückt – früher die Flüchtlinge, jetzt der Virus –, stürzen sich alle darauf, bis es komplett alle Informationsräume beherrscht. Alle öffentlichen wie privaten TV-Sender und auch die „seriösen“ Tageszeitungen sind voll davon. Mit dramatischen Berichten, Interviews, Entwerfen von Szenarien und nicht endenden politischen Talkshows. Der Rest des Weltgeschehens, und sei es noch so wichtig, wird ausgeblendet. Ob Klimawandel, Weltfrieden oder Flüchtlinge.

Warum ist das so? Ist es der italienische Drang zum Pathos? Oder die Hoffnung, damit Leser/Zuschauer zu locken? Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist klar, dass eine solche permanente Überflutung zwei Wirkungen auf die Bevölkerung hat: Bei einem Teil entstehen Überdruss und Wut über verzerrte Informationsvermittlung, manchmal auch „Abstumpfung“. Bei dem anderen Teil kommt es zu gesteigerter Angst , irrationalen Reaktionen und manchmal einer Art „Katastrophensucht“. Beides ist für die Bewältigung von Krisen, wie jetzt die Corona-Epidemie, nachteilig bzw. gefährlich. Aber die Appelle der Besonnenen – ob Ärzte, Institutionen, Wissenschaftler, einfache Bürger – Ruhe zu bewahren, die Gefahr realistisch einzuschätzen und auf Prävention zu achten, haben es schwer, die Köpfe und Seelen der Menschen zu erreichen.

Aber vielleicht schaffen die Proteste der italienischen Wirtschaft, was Appelle an die Vernunft nicht schaffen. Die Angst vor dem Virus hat nicht nur Auswirkungen auf die Nachfrage nach Produkten, sondern – wenn ganze Belegschaften zu Hause bleiben müssen – auch auf ihr Angebot. Auch wenn die Wirtschaft hier nicht gerade ans Gemeinwohl denkt, könnte es zwischen Salvinis Extremen „Schließung“ und „Öffnung“ den Spielraum für einen rationaleren Weg erweitern, sofern er in dieser Situation noch möglich ist.

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