Szenarien einer Krise

Ich muss diesem Beitrag eine Warnung voranstellen: Sein Inhalt und die dargestellten möglichen Entwicklungen gelten nur bis zum Tag der Veröffentlichung. Danach kann alles gleich wieder Makulatur sein. Die italienische „Politik“ – wagt man es noch, für das gegenwärtige Chaos in Italien dieses Wort zu verwenden – macht es möglich.

Am 13. August stand im Senat die Entscheidung an, wann Ministerpräsident Conte seine Erklärung zur Regierungskrise abgeben soll (worauf die Lega die Möglichkeit hätte, ihren angekündigten Misstrauensantrag gegen ihn zu stellen.) Die Lega, unterstützt von Berlusconis und Melonis rechten Parteien, verlangte, der Regierungschef solle schon am 14.8. erscheinen. Sie kam damit nicht durch: Mit den Stimmen der 5-Sternebewegung, der PD und der von der PD abgespaltenen LEU wurde als Datum der 20. August beschlossen. Eine erste Niederlage für Salvini, der sich eigentlich stark genug fühlte, um die Agenda der Regierungskrise diktieren zu können.

Die wirkliche Überraschung des 13. Augusts war die Erklärung des Lega-Chefs, seine Partei sei nun doch bereit, der von den 5-Sternen geforderten Reduzierung der Abgeordnetenzahl zuzustimmen. Zum Hintergrund: Die 5SB will erreichen, dass eine Entscheidung darüber noch vor möglichen Neuwahlen fällt. Einerseits, weil diese Maßnahme zu einem ihrer populistischen Steckenpferde „im Kampf gegen die politische Kaste“ gehört. Aber auch, weil ein solches verfassungsänderndes Gesetz ein längeres Procedere erfordert. So muss nach einer Verabschiedung mit einfacher Mehrheit eine Frist von drei Monaten gewährt werden, damit dazu u. U. eine Volksabstimmung beantragt werden kann. Käme ein solches Referendum zustande, würden für die Durchführung weitere Monate gebraucht. Die Gefahr einer sofortigen Neuwahl, die für die 5Sterne nach den aktuellen Umfragen desaströse Ergebnisse hätte, wäre erst einmal gebannt.

Salvini wird nervös

Salvinis plötzliches Umschwenken, das auch seine eigene Partei überraschte, war vor allem eine Reaktion auf die Anzeichen dafür, dass sich 5SB und PD darauf verständigen könnten, auch ohne Neuwahlen gemeinsam eine neue Regierung zu bilden – immerhin verfügt die 5SB in beiden Kammern immer noch über die größte Fraktion. Eine Option, mit der Salvini offenbar nicht gerechnet hatte und die ihn aus der Fassung brachte. Sein Lockangebot an die Grillini, gemeinsam die Verkleinerung beider Parlamentskammern zu beschließen, verband er allerdings mit der Forderung, „sofort danach“ zur Wahl zu gehen und „dem Volk das Wort zu erteilen“.

Sofort danach? Abgesehen davon, dass über Parlamentsauflösung und Neuwahlen laut Verfassung nicht ein Parteichef bzw. Innenminister entscheidet, sondern der Staatspräsident – schon allein aufgrund der erwähnten Regeln über Verfassungsänderungen wäre dies zeitlich nicht möglich. Um das Durcheinander komplett zu machen, forderte der Fraktionsvorsitzende der 5SB in seiner Erwiderung auf Salvini, wenn die Lega der Verfassungsreform zur Reduzierung der Abgeordneten nun doch zustimme, müsse sie konsequenterweise auch ihren Misstrauensantrag gegen Conte zurückziehen.

"Ciao, ragazzi!"

„Ciao, ragazzi!“

Nach der Senatssitzung vom 13. August sind die Spekulationen über die möglichen Szenarien verworrener denn je. Das einzig Feststehende ist, dass Ministerpräsident Conte am Dienstag (also morgen) im Senat zur Regierungskrise berichten wird. Es ist auch möglich, dass er von sich aus die Vertrauensfrage stellt, um die Lega zu einer klaren Positionierung zu zwingen. Spricht sie Conte das Vertrauen aus, wäre ihr Rückzieher eklatant. Stimmt sie dagegen, wäre der Koalitionsbruch da. Was tatsächlich geschieht, ist schwer absehbar. Nach dem derzeitigem Stand sind folgende Optionen möglich:

Was geschieht nach dem 20. August?

Option 1:
Die Lega stellt keinen Misstrauensantrag gegen den Regierungschef, die Koalition bleibt (zunächst) bestehen. Um sich dem drohenden Wahldebakel zu entziehen, könnte die 5SB trotz ihres Geschreis „Nie wieder mit dem Verräter Salvini“ dazu bereit sein. Der politische Preis der Operation wäre allerdings hoch, sie könnte ihre internen Konflikte verschärfen und weitere Wählerstimmen kosten. Auch für Salvini wäre die Kehrtwende riskant, da sie als Zeichen von Schwäche und Angst gedeutet würde. Sein Image als „starker Mann“ und unerschrockener „Capitano“ wäre angekratzt.

Dennoch gab es seitens der Lega in den vergangenen Tagen Signale, die auf eine Fortsetzung der Koalition hindeuten. Seine Telefonleitung sei für die „Amici“ aus der 5SB immer an, erklärte Salvini nach der Senatssitzung. In den Medien kursieren Gerüchte, dass er sogar bereit wäre, Di Maio als Ministerpräsidenten zu akzeptieren. Die 5Sterne dementieren offiziell und wollen zunächst abwarten, was am 20.8. passiert. Solange halten sie sich die Hände frei für eine Alternative mit der PD.

Option 2:
Die Lega stellt am 20. August den Misstrauensantrag. Angesichts der Zahlen im Senat wird es dafür aller Voraussicht nach keine Mehrheit geben, die 138 Stimmen, die dort die Rechte (Lega, Berlusconis Forza Italia und postfaschistische Fratelli d‘ Italia) zur Zeit noch hat, reichen dafür nicht. Dennoch wäre damit die Koalition offiziell am Ende, Conte müsste beim Staatspräsidenten seinen Rücktritt einreichen. Mattarella könnte mit der Regierungsbildung jemanden beauftragen, der nicht parteipolitisch profiliert ist. Ziel wäre die Bildung einer „Expertenregierung“ („governo tecnico“) mit begrenztem Auftrag: Verabschiedung des Haushaltsgesetzes und gegebenenfalls auch Verfassungsänderung zur Verkleinerung des Parlaments (mit entsprechender „Anpassung“ des Wahlgesetzes). Dafür müsste sich allerdings im Parlament eine Mehrheit finden, die eine solche „technische Regierung à la Monti“ unterstützt. Eher unwahrscheinlich.

Option 3
:
Nach dem Rücktritt Contes beauftragt Mattarella entweder ihn oder eine andere Person mit „politischem Profil“, um die Möglichkeit einer neuen Regierungsmehrheit aus 5SB, PD und LEU zu sondieren. Ziel wäre eine Regierung mit längerer Perspektive, vielleicht sogar bis zum Ende der aktuellen Legislaturperiode („governo di legislatura“) im Jahr 2023. Die PD ist gegenüber einer solchen Option gespalten: Während sie Renzi und seine Anhängerschaft in den PD-Fraktionen (die dort in der Mehrzahl sind) inzwischen favorisieren, halten sich der PD-Generalsekretär Zingaretti und u. a. auch der ehemalige Ministerpräsident Gentiloni zurück. Sie betonen, die Partei müsse sich „zur Neuwahl bereithalten“ und erst einmal die Schritte des Staatspräsidenten abwarten. Die 5SB ist ebenfalls uneinig. Die Gruppe der „Orthodoxen“ um den Vorsitzenden der Abgeordnetenkammer Fico wäre dazu bereit. Anders als der jetzige „capo politico“ Di Maio, der wegen seiner devoten Haltung gegenüber Salvini in seiner Partei und erst recht seitens der PD unter Beschuss steht. Er wäre bei einer solchen Konstellation vermutlich aus dem Spiel. Allerdings darf man nicht vergessen, dass auch an der grillinischen „Basis“ eher diejenige überwiegen, die Salvinis rechtsextremen und fremdenfeindlichen Kurs befürworten. In Wahrheit wäre es also für eine Koalition von 5SB und PD enorm schwierig, eine gemeinsame politische Basis zu finden. Nur „alle gegen Salvini“ würde nicht reichen (und könnte dem Lega-Chef sogar nutzen).

Option 4:
Scheitern die Konsultationen des Staatspräsidenten und alle Versuche, eine mehrheitsfähige Regierung zu bilden, dann müsste Mattarella das Parlament auflösen und den Weg für Neuwahlen freimachen. Der voraussichtliche Termin wäre in der zweiten Oktoberhälfte (man spricht vom 27.10.), was der neuen Regierung gerade noch die Möglichkeit böte, das Haushaltsgesetz 2020 zu verabschieden (mit dem Ziel, die sonst automatisch in Kraft tretende Erhöhung der Mehrwertsteuer und mögliche EU-Sanktionen abzuwenden).

Letzte Meldung: Inzwischen hat der Gründer der 5SB, Beppe Grillo, der sich eigentlich aus dem politischen Geschäft zurückgezogen hatte, wieder das Heft in die Hand genommen. Er lud gestern die wichtigsten Vertreter (Fico, Di Battista, Di Maio, die Fraktionsvorsitzenden und – natürlich – Davide Casaleggio) in seine Villa an der toskanischen Riviera ein. Anschließend erhielt die Presse ein Kommuniqué, in dem es heißt, alle Anwesenden seien sich darin einig, in Salvini keinen „noch glaubwürdigen Ansprechpartner zu sehen“.

Die Chancen für Option 3 oder 4 steigen (oder auch nicht).

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