Gesetzesbruch lohnt sich

Anfang November verwüsteten gewaltige Unwetter – von Ligurien bis Sizilien – Landschaften und Ortschaften in ganz Italien, es gab 32 Todesopfer. Es gab Hurrikane, sintflutartigen Regen und heftige Hagelstürme. Ganze Wälder mit jahrhundertaltem Baumbestand wurden plattgemacht, kleine Bäche, die zu reißenden Flüssen wurden, begruben Gebäude, Autos und Menschen unter sich. Und Monsterwellen stürzten auf die Küsten.

Die Serie von Unwetterkatastrophen ist in den letzten Jahren in Italien immer dichter und extremer geworden. Eine Folge des Klimawandels, aber nicht nur. Denn die klimatischen Veränderungen treffen auf eine Umwelt, deren Gleichgewichte bereits durch unverantwortliches menschliches Handeln zerstört wurde.

Die illegale Zubetonierung ganzer Gegenden ist eine der Ursache des „dissesto idrogeologico“ („gestörtes hydrogeologisches Gleichgewicht“), der weite Teile des Landes heimsucht. Nach statistischen Schätzungen sind 20 von 100 Bauten illegal. Sie entstanden „wild“ unter Missachtung von Sicherheitsvorschriften, mit minderwertigem Material, auf erdrutschgefährdeten Berghängen, in unmittelbarer Nähe von Wasserläufen und in Erdbebengebieten.

Angekündigte Katastrophen

In der Nacht zum 4. November wurde in der Nähe von Palermo, nach heftigen Regenfällen, eines der illegalen Bauwerke von einem über die Ufer getretenen Flüsschen unter Wasser- und Schlammmassen begraben. Sechs Erwachsene und drei Kinder starben. Es waren zwei miteinander verwandte Familien, die von einem Bekannten die „Villetta“ gemietet hatten, um dort das Wochenende zu verbringen. Der Vermieter gab zu, dass es bereits vor Jahren eine ähnliche Überflutung mit großen Schäden gab. Deswegen habe er selbst in dem Haus nicht mehr wohnen wollen und es „nur gelegentlich“ als Ferienhaus vermietet („Ich habe aber nicht gedacht, dass so etwas passieren könnte!“).

Das überflutete Haus bei Palermo

Das überflutete Haus bei Palermo

„Vor allem das illegale Bauen ist für die Katastrophe verantwortlich“, erklärte der zuständige Staatsanwalt. „Wäre dieses Haus dort, so nah am Fluss Milicia, nicht gebaut oder rechtzeitig abgerissen worden, hätte es abgesehen von einigen überfluteten Arealen keine größeren Schäden gegeben“. Dabei gab es für das Haus schon seit 2008 eine Abbruchverordnung, die aber nie umgesetzt wurde. Dafür wäre die Gemeinde zuständig gewesen, doch der Bürgermeister weist jede Schuld von sich: „Ich hätte ohnehin kein Geld für den Abbruch gehabt“. Jetzt ermittelt der Staatsanwalt wegen fahrlässiger Tötung und hat außerdem das gesamte Areal unter Aufsicht gestellt. Denn es gibt dort mindestens zwölf weitere gefährdete illegale Häuser. „Für die gesamte Gegend habe ich auf meinem Tisch 800 Abbruchverordnungen, die nie umgesetzt wurden. Wir brauchen ein Gesetz, dass allen Straferlassen und Amnestien einen Riegel vorschiebt“, klagt der Staatsanwalt.

Amnestie für illegales Bauen …

Das Gegenteil geschieht. Schon frühere Regierungen (1985 Craxi, 1994 und 2003 Berlusconi – mit der Lega als Koalitionspartner) erließen ähnliche Amnestien: Gegen eine geringe Geldbuße wurden illegale Bauten nachträglich „legalisiert“. Was ihre Wähler bei der Stimmabgabe honorierten. Dieser „Tradition“ folgt auch die jetzige Regierung: Für die Gebiete von Mittelitalien und auf der Insel Ischia, wo es vor Kurzem ein Erdbeben gab, soll es für beschädigte illegale Häuser eine Amnestie geben, die ihren Besitzern Zugang zu den Finanzhilfen für den Wiederbau verschafft. Obwohl das illegale Bauen für die schweren Folgen des Erdbebens mitverantwortlich war, besonders auf Ischia. Doch gerade die dortige Amnestie liegt Vizepremier Di Maio (5SB) besonders am Herzen. Es ist sein Wahlkreis.

Die Verkünder der „condoni“ behaupten jedes mal, es handele sich um Ausnahmeregelungen, um Probleme „pragmatisch“ zu lösen. In Wirklichkeit ermuntern sie dazu, die Gesetze weiterhin zu missachten. Jedermann weiß: die nächste Amnestie kommt bestimmt. Wer sich bis dahin an Recht und Gesetz gehalten hat, ist der Dumme – und überlegt sich womöglich, ebenfalls illegale Wege zu gehen.

Nicht zuletzt profitiert die organisierte Kriminalität von den Straferlassen. Denn wer illegal baut, vertraut sich oft gerade ihren Diensten an: bei der Vermittlung von Schwarzarbeit, der Beschaffung von Materialien, der Bestechung beteiligter Behörden.

Gegen den „condono Ischia“ gab es Protest, auch innerhalb der 5SB. Einer ihrer Senatoren votierte dagegen, sieben nahmen nicht an der Abstimmung teil. Angesichts der knappen Regierungsmehrheit im Senat eine brenzlige Situation. Das Gesetzesdekret kam dennoch durch, weil einige Abgeordnete von Berlusconis Forza Italia zu Hilfe kamen (gegen einige von ihnen laufen Verfahren wegen mafioser Geschäfte).

… und Steuerhinterziehung

Die Amnestiepraxis betrifft nicht nur das illegale Bauen, sondern auch die noch massiver verbreitete Steuerhinterziehung. Viele Italiener betrachten Steuern als eine Art staatliche Wegelagerei. Was sie nicht daran hindert, vom Staat gleichzeitig Gesundheitsversorgung, Bildung, Straßen und sonstige Dienstleistungen zu erwarten – nur bitte nicht mit ihrem Geld.

Über 100 Milliarden jährlich kostet dem Land das Hinterziehen von Steuern und Sozialbeiträgen durch Privatbürger, Selbständige und Unternehmen. Eine riesige Lücke, die zu Lasten der steuerzahlenden Bürger geht. Wie bei der illegalen Bautätigkeit werden die Täter mit periodisch wiederkehrenden Amnestiegesetzen belohnt.

Berlusconi war als Regierungschef hier besonders aktiv. Kein Wunder, ist er doch selbst ein rechtskräftig verurteilter Steuerbetrüger in Millionenhöhe. Die schon lange mit ihm regierende Lega unterstützte die Steueramnestien, denn zu ihrer Klientel in Norditalien gehören viele Selbstständige und Unternehmen, die sich an den kleineren oder größeren Betrügereien des Fiskus beteiligen.

Auch die jetzige Regierung hat eine Steueramnestie auf ihrer Agenda. Ursprünglich sah sie sogar vor, für Einkommen, die bis zu einer Obergrenze von jährlich 100.000 Euro bis Ende 2017 der Steuerbehörde verschwiegen wurden und jetzt nachträglich angegeben werden, nur 20% des fälligen Steuerbetrages zahlen zu lassen.

Unmittelbar nach der umstrittenen Verabschiedung der Bauamnestie für Ischia entschieden Ministerpräsident Conte und seine Stellvertreter Salvini und Di Maio, diese Regelung doch wieder aus dem Gesetzesentwurf zu streichen. Wohl kaum aus plötzlich gewonnener Einsicht. Sondern eher, weil vor allem Di Maio angesichts der – auch parteiinternen – kritischen Reaktionen auf die Ischia-Regelung zunehmend nervöser wurde.

Andere Teile der Amnestie (welche die Regierung elegant „Steuerfrieden“ nennt) bleiben bestehen: 1) werden alle Steuerschulden und Geldbußen unter 1.000 Euro für den Zeitraum 2000-2010 getilgt, 2) entfallen bei nachträglichem Bezahlen der Steuerschulden alle Sanktionen und Mahngebühren, und 3) können laufende Gerichtsverfahren wegen Steuerhinterziehung durch Zahlung von 50% der fälligen Steuerschulden beendet werden. Auch ohne die zuvor genannte gestrichene Bestimmung bleiben den Steuerbetrügern genug Vergünstigungen. Daraus erhofft sich die Regierung auch, dass ein wenig Geld für in den verschuldeten Staatshaushalt fließt. Eine kurzsichtige und trügerische Hoffnung, die auf längere Sicht genau das Gegenteil bewirkt.

Bei der Lega ist diese Art Politik nichts Neues. Doch auch die 5SB, die in der Opposition den Kampf gegen korrupte Politiker zu ihrem Steckenpferd und den Ruf „Onestà!“ („Ehrlichkeit!“) zu ihrem Wahlkampfmotto gemacht hatte, zeigt jetzt, wo sie regiert, gegenüber der alltäglichen Korruption und illegalem Verhalten vieler Bürger die gleiche Nachsicht wie Berlusconi und Salvini. Es ist exakt der gleiche Klientelismus, den sie früher angeblich bekämpfen wollte. Das Volk ist gut, nur die Politiker sind korrupt. Das ist die Botschaft aller Populisten.

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