Gesetzesbruch „aus Not“

Der Gemeinderat der sizilianischen Kleinstadt Licata, die in der Nähe von Agrigent liegt, hat ihrem Bürgermeister Angelo Cambiano das Misstrauen ausgesprochen und ihn damit aus dem Amt geworfen. 21 Gemeinderäte sprachen sich für den Antrag aus, nur 8 dagegen. Was hat Cambiano angestellt, dass ihm das Vertrauen entzogen wurde? Hat er das Gesetz gebrochen, vielleicht mit der Mafia gemeinsame Sache gemacht – in Sizilien keine Seltenheit? Das Gegenteil ist der Fall: Cambiano hat es gewagt, geltendes Gesetz anzuwenden. In seiner zweijährigen Amtszeit hat er 67 illegale Bauten abreißen lassen. Und damit richterliche Entscheidungen in die Tat umgesetzt.

Ein Bürgermeister scheitert

Illegal errichtetes Gebäude

Illegal errichtetes Gebäude

Das Ausmaß illegaler Bautätigkeiten ist in Italien monströs, besonders im Süden. Überall entstehen wilde Bauten unter Missachtung von öffentlichen Bebauungsplänen, Sicherheitsbestimmungen, Umwelt- und Landschaftsschutzvorgaben. Direkt an Küsten, Flussufern, Berghängen. Häufig steckt die organisierte Kriminalität dahinter, die an illegalen (und auch „legalen“) Bautätigkeiten schon immer gut verdiente. Aber auch ohne mafiose Infiltration floriert das illegale Geschäft. Mit oft verheerenden Folgen nicht nur für Natur und Umwelt, sondern auch für die Bevölkerung. Wenn bei Unwettern ganze Ortschaften unter Wassermassen verschwinden. Oder wenn bei Erdbeben die Häuser in Sekunden wie Kartenhäuser zusammenfallen. Zuletzt geschehen vor ein paar Tagen beim Erdbeben auf Ischia: Experten vermuten, dass der große Umfang der Schäden – trotz der relativ geringen Stärke von 4,0 auf der Richterskala – auch mit den vielen illegalen Bauten auf der Insel zusammenhängt. Am stärksten betroffen ist der Ort Casamicciola, wo solche Gebäude besonders zahlreich sind. Die Staatsanwaltschaft prüft, ob sie Anzeige gegen Unbekannt wegen fahrlässiger Tötung (zwei Todesopfer) erstattet.

Die Fakten und Erkenntnisse sind schon lange bekannt. Trotzdem geht der Wahnsinn weiter. Jede Familie braucht doch ein Heim, oder? Also ist es mein gutes Recht, eines zu bauen – und zwar dort, wo es mir passt. Nur selten muss man dafür Sanktionen oder gar den Abriss befürchten. Die politisch Verantwortlichen in den Gemeinden sehen über die wilde Zementflut hinweg. Sie möchten wiedergewählt werden und fürchten bei einem Einschreiten den Zorn ihrer Mitbürger.

Bürgermeister Cambiano, der sich dem widersetzte, stand aus diesem Grund seit Monaten unter Personenschutz, sein Haus wurde in Brand gesetzt. Unter den 21 Gemeinderäten, die für seine Absetzung votierten, sind sieben Besitzer illegaler Bauten. Einige gehören der Zentrumspartei von Außenminister Alfano an, der in Agrigent seinen Wahlkreis hat und Cambiano noch wenige Tage vor seiner Abwahl seine „volle Unterstützung bei der Durchsetzung der Legalität“ zugesagt hatte.

„Die armen Leute nicht in Stich lassen“

In November findet in Sizilien die Regionalwahl statt. Da ist die Front der Verteidiger des „abusivismo“ (illegale Bautätigkeit) plötzlich breit und parteiübergreifend. Auch Giancarlo Cancelleri, der Kandidat der 5-Sternebewegung, die sich gerne als die (einzige) Partei „mit sauberer Weste“ definiert, zeigt volles Mitgefühl. Nicht etwa mit dem abgesetzten Bürgermeister, sondern mit den Gesetzesbrechern. „Wir werden nicht die Häuser armer Leuten niederreißen lassen!“ versprach er, wenn er zum Regionspräsidenten gewählt wird. Sein Parteikollege Di Maio, der bei den nächsten Nationalwahlen wahrscheinlich als Spitzenkandidat antreten wird, stärkt ihm den Rücken und spricht von „abusivismo aus Not“. Man dürfe nicht diejenigen in Stich lassen, die in einem illegalen Bauwerk wohnen, weil es die Politik sei, die versagt habe, erklärte er.

Ähnlich „argumentieren“ Politiker und Verwaltungsvertreter anderer Parteien, von Mittelinks bis Rechts. Viele Bürgermeister begründen ihre Toleranz auch damit, dass sie nicht genug Geld hätten, um gegen die vielen ungenehmigten Bauten vorzugehen. De Luca (PD), der Gouverneur der Region Kampanien, in der der „abusivismo“ blüht, ließ gar ein Gesetz verabschieden, das für ca. 70.000 illegale Gebäude Straferlasse („condoni“) vorsieht. Der zuständige Minister Del Rio (der ebenfalls der PD angehört) will dieses Gesetz anfechten. Die Regierung werde solche Massen-Straferlasse nicht dulden, erklärt er.

Tatsächlich haben derartige „Condoni“ in Italien, auch auf nationaler Ebene, eine lange Tradition. Das erste Gesetz beschloss 1985 die Craxi-Regierung. Fast zehn Jahre später trat Craxis gelehriger Schüler und Busenfreund Berlusconi mit dem Gesetz 724/94 in seine Fußstapfen und ermöglichte Abertausenden von nicht genehmigten Bauten die nachträgliche „Legalisierung“. 2003 kam das nächste Gesetz, ebenfalls unter Berlusconi. Seit 1985 beträgt die Zahl der Anträge auf Straferlass fast 15,5 Millionen.

Illegale Bautätigkeit ist kein Ausweg aus der Wohnungsnot

Die massenhafte Praxis, vorbei an allen gesetzlichen Bestimmungen „wild“ zu bauen, ist kein Kavaliersdelikt. Sie verunstaltet nicht nur die Landschaft, sondern schädigt und gefährdet nachweislich die Natur, die Umwelt und auch die Bürger. Sie schadet der Wirtschaft und nützt der – großen und kleinen – organisierten Kriminalität, die daran Milliarden verdient. Wer sich dagegen stellt, wie der ehemalige Bürgermeister von Licata, wird bedroht, angegriffen und möglichst zum Schweigen gebracht. Da Verständnis zu zeigen – aus vermeintlich „sozialen“, in Wahrheit aber wahltaktischen Gründen –, ist unverantwortlich. Wohnungsnot kann man nicht mit der anarchischen Zerstörung von Lebensräumen bekämpfen, sie wird auf lange Sicht sogar dadurch verschärft. Und die „armen Leute“ sind oft alles andere als arm. Wer in Italien schon mal die Villen und „Villette“ gesehen hat, die an Küsten und Stränden und in schönster Panoramalage wie Pilze aus dem Boden schießen, erkennt schnell, dass es sich dabei nicht um sozialen Wohnungsbau handelt.

Die negativen Folgen des augenzwinkernden Einverständnisses mit den Gesetzesbrüchen – sei es beim Bau illegaler Häuser, sei es bei der Hinterziehung von Steuern – sind auch kultureller und politischer Natur. Dadurch wird eine Haltung legitimiert und gefördert, nach der zur Durchsetzung persönlicher Interessen jedes Mittel erlaubt ist. Regeln und Gesetze sind nur Hindernisse, die es zu umgehen gilt. Und wenn Politiker und Mandatsträger dafür eintreten, dass Einzelinteressen auch mit illegalen Mitteln – auf Kosten der Gemeinschaft – durchgesetzt werden dürfen, sprechen sie sich für die Kapitulation des Rechtsstaates aus. Und treiben dessen Zersetzung aktiv voran.

Wer so etwas tut, schützt nicht „arme Leute“, sondern vor allem Mächtigere und Stärkere. „Sozialer Wohnungsbau und legaler Zugang zu erschwinglichen Wohnungen sind die Wege, um das Recht auf ein Heim zu verwirklichen, nicht eine unkontrolliert wuchernde illegale Bautätigkeit“ erklärte Antonio Decaro, Vorsitzender des Städte- und Gemeindeverbands und Bürgermeister von Bari. Er hat recht.

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