Gefühlte Aufnahmekapazitäten

„Es dürfen keine weitere Flüchtlinge in die Lombardei gebracht werden. Ich werde den Kommunen, die noch Flüchtlinge aufnehmen, die Mittel kürzen“: Roberto Maroni (Lega Nord), Präsident der Region Lombardei.

„Ich werde keinen einzigen Flüchtling aufnehmen“: Giovanni Toti (Forza Italia), Präsident der Region Ligurien.

„Hier handelt es sich um eine Invasion. Im Veneto gibt es null Plätze für weitere Flüchtlinge“: Luca Zaia (Lega Nord), Präsident der Region Venetien.

Portogruaro, Region Venetien

Portogruaro, Region Venetien

Und sein Parteifreund Massimo Bitonci, Bürgermeister von Padua (den wir schon kennen lernten, siehe den „Untergang von Padua“): „Ich bin gewählt worden, um der Bürgermeister der Paduaner zu sein, nicht um für irgendwelche Jungs aus Afrika den Urlaub zu organisieren“.

Was ist „verkraftbar“?

Die rechtsregierten Regionen Norditaliens machen Front gegen weitere Flüchtlinge. Ungeachtet der Tatsache, dass sie im Vergleich zu anderen Regionen schon bisher zu wenig aufgenommen haben. Laut einer Statistik des Innenministeriums waren im Mai 2015 insgesamt 75.883 Flüchtlinge in zentralen Aufnahmeeinrichtungen untergebracht, davon 6.599 (9%) in der Lombardei, 2.977 (4%) im Veneto und 1.433 (2%) in Ligurien. Ein Drittel aller Flüchtlinge ist derzeit in nur zwei Regionen untergebracht: 16.010 in Sizilien (22%) und 8.611 in Latium (12%).

Nach dem „Nationalen Aufnahmeplan“ von 10.7.2014 richtet sich die regionale Verteilung der Flüchtlinge nach folgenden Kriterien: Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft (gemessen am BSP) und Anzahl der bereits aufgenommenen Flüchtlinge. Nach diesen Verteilungskriterien liegen die Lombardei und der Veneto 40 bzw. 50% unter dem Soll. Aber Maroni und Zaia erklären, ihre Regionen könnten unmöglich weitere Flüchtlinge „verkraften“.

Wenn ich mir überlege, dass allein in der Stadt Hannover die Zahl der (zentral sowie dezentral untergebrachten) Flüchtlinge derzeit bei ca. 2.700 liegt – d. h. fast so viele wie im ganzen Veneto und fast doppelt so viel wie in Ligurien – wird deutlich, wie relativ der Begriff „Aufnahmekapazität“ ist. In Sachsen zum Beispiel (das übrigens laut aktuellen Statistiken wie kein anderes Bundesland Richtung Entvölkerung galoppiert) scheint die „gefühlte Aufnahmekapazität“ bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung unter Null zu liegen. Und in der EU wehrt sich z. B. Litauen vehement gegen eine Einführung nationaler Quoten, die für dieses Land die horrende Zahl von sage und schreibe 570 aufzunehmenden Flüchtlingen bedeuten würde.

Eine hannoversche Schule wie ganz Litauen

Noch ein kleiner Vergleich drängt sich mir auf: Ich habe 16 Jahre lang in einer Schule unterrichtet, in der von ca. 600 Schülerinnen und Schülern über 400 aus Migranten- und Flüchtlingsfamilien stammten. Eine Zahl, die der geplanten Gesamtquote für Litauen schon ziemlich nahe kommt. Natürlich war eine solche Schülerschaft für uns Lehrer eine Herausforderung. Allerdings weniger wegen der kulturellen und ethnischen Vielfalt, sondern vor allem aufgrund der prekären sozialen Verhältnisse, unter denen unsere Schützlinge – mit und ohne „Migrationshintergrund“ – lebten.

Wenn jetzt einige norditalienische Regionspräsidenten erklären, keinen einzigen Flüchtling mehr aufnehmen zu können, hat das mit den realen Verhältnissen nichts zu tun. Und das wissen sie auch. Der gleiche Maroni, der heute droht: „Ich warne die Präfekten davor, weitere Migranten in die Lombardei zu holen. Und den Kommunen, die weitere Flüchtlinge aufnehmen, werde ich die finanziellen Zuwendungen entziehen“, hatte noch 2011 (als Berlusconis Innenminister) erklärt: „Wir haben bei der Verteilung der Flüchtlinge alle Regionen einzubeziehen. Es handelt sich um eine Notsituation, Solidarität ist nötig. Verweigerungen sind inakzeptabel“. Ebenso wenig glaubt jemand, dass Großbritannien, Dänemark, Polen oder Litauen mit der Aufnahme von ein paar weiteren tausend Menschen überfordert wären. Worum es geht, sind Botschaften an die eigenen Wählerklientele und das Bedienen fremdenfeindlicher Ressentiments.

Europa ist verletzlich

Ministerpräsident Renzi hat die Boykottaufrufe der norditalienischen Regionspräsidenten von Lega und Forza Italia scharf zurückgewiesen. Nicht allein, weil sie gegen geltendes Recht verstoßen, denn die Kompetenz für die Verteilung der Flüchtlinge liegt allein beim Innenministerium, das die Präfekten mit der organisatorischen Umsetzung vor Ort beauftragt. Sondern auch aus politischen Gründen. Und weil diese Aufrufe die Bemühungen Italiens, in Europa endlich zu verbindlichen Quoten und einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge zu kommen, ad absurdum führen.

Die Fronten – sowohl in den einzelnen Ländern wie auf europäischer Ebene – verhärten sich zunehmend. Rechtspopulisten und Nationalisten nutzen das Flüchtlingsdrama und die Griechenland-Krise, um an die Grundwerte eines menschenwürdigen, solidarischen und demokratischen Zusammenlebens die Axt anzulegen. Und profitieren dabei von einem politisch geschwächten und krisengeschüttelten Europa.

Ob die dramatische Dimension des Problems, das nicht „nur“ andere Kontinente oder die europäische Peripherie, sondern auch das Herz Europas betrifft, den Entscheidungsträgern in den Nationalregierungen und EU-Gremien bewusst ist, bezweifle ich. Gerade auch angesichts der europäischen Tragödie, die sich gegenwärtig um Griechenland abspielt.

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