Chronik des Grauens lässt Europa kalt

Erstickt im Motorenraum im Unterdeck des kleinen überfüllten Bootes, das sie nach Europa bringen sollte. 45 Leichen hat ein Schiff der italienischen Marine, die vor der Küste Siziliens im Rahmen der Operation „Mare Nostrum“ patrouillierte, am vergangenen Montag geborgen. 600 Flüchtlinge konnten noch lebend aus dem 25-Meter-Boot gerettet werden.

Qualvolles Ersticken

Rettungsaktion Mare Nostrum

Rettungsaktion Mare Nostrum

Auch bei den todbringenden Fahrten über das Mittelmeer gibt es ein Klassensystem: Wer mehr zahlt, darf aufs Oberdeck und bekommt von den Schleppern gelegentlich eine Flasche Wasser oder ein Stück Brot. Wer weniger zahlt, wird ins Unterdeck eingesperrt, ohne Wasser und Nahrung, oft – wie in diesem Fall – in die Nähe giftiger Abgase und ohne Luft zum Atmen. Als die Eingesperrten in Todesangst versuchten, nach oben zu klettern, drohte das völlig überfüllte Boot zu kentern. Nun geschah das Unfassbare: In Panik geratene Flüchtlinge setzten sich auf die Falltür, um die Eingesperrten daran zu hindern, sie zu öffnen und herauszukommen. „Die da unten schrien, aber einige hielten den Deckel zu. Stundenland hörten wir ihre Schreie, aber wir hatten selbst Angst, ins Wasser zu fallen. Dann, kurz bevor das italienische Schiff uns erreichte, hörten die Schreie auf“, erzählt ein Überlebender. Erstickt, von den eigenen Leidensgenossen am Verlassen der tödlichen Falle gehindert. Der Kapitän des Rettungsschiffes:„Da unten sah es aus wie in einem Massengrab von Auschwitz. Mehr möchte ich nicht sagen“.

EU-Regierungschefs lehnen Renzis Vorschlag ab

Das ist die vorläufig letzte Meldung aus der Chronik des Grauens, die uns tagtäglich von den Grenzregionen Europas erreicht. Am gleichen Tag, an dem jene Flüchtlinge qualvoll erstickten, sahen die europäischen Regierungschefs – zum wiederholten Male – keine Veranlassung, ihre mörderische „Asylpraxis“ zu ändern. Nicht einmal der Vorschlag Italiens, Asylanträge, die in einem der EU-Länder gestellt werden, gegenseitig anzuerkennen, fand eine Mehrheit. Vor allem die nordeuropäischen Länder – allen voran Deutschland – waren dagegen. Es bleibt dabei: Das europäische Land, das ein Flüchtling zuerst erreicht (sofern er nicht vorher ums Leben kommt), ist allein für dessen Aufnahme und Asylantrag zuständig. Schon gar nicht wurde in Erwägung gezogen, was die UNHCR und Nichtregierungsorganisationen schon seit langem fordern: Einrichtung humanitärer Korridore und EU-Außenstellen in den afrikanischen Transitländern zur Entgegennahme der Asylgesuche, Einführung europäischer Quoten (je nach Bevölkerungszahl) für die Aufnahme von Flüchtlingen.

Was stattdessen beschlossen wurde, war der Ausbau und die bessere finanzielle Ausstattung der Organisation „Frontex“, deren Aufgabe die effektive Überwachung der EU-Grenzen ist. Sie wird im Abschlussdokument als „Instrument europäischer Solidarität“ gepriesen. Das ist zynisch: Europäische Solidarität nicht zum Schutz der Flüchtlinge, sondern zum Schutz der eigenen Grenzen vor ihnen. Dass Renzi darin – trotz der Enttäuschung über die Ablehnung seines Vorschlags – „immerhin ein positives Signal“ sah, ist für mich nicht nachvollziehbar.

Hilflos wirken auch die Beschwörungen von Innenminister Alfano, die Einwanderungs- und Flüchtlingsfrage neben den Themen Wachstum und Beschäftigung ganz oben auf der Agenda der italienischen EU-Präsidentschaft setzen zu wollen, Italien werde hier „nicht locker lassen“. Fakt ist, dass der erste italienische Vorstoß zu einem – wenn auch nur partiellen – Paradigmenwechsel in der europäischen Flüchtlingspolitik gescheitert ist. Ein winziges Signal für eine mögliche Veränderung kommt – überraschenderweise – aus der Entourage des designierten Kommissionspräsidenten, dem konservativen Juncker. Angeblich möchte er das Thema „Stärkere Mobilität von Migranten innerhalb der EU“ behandelt wissen. Wobei noch völlig unklar ist, in welcher Richtung das gehen soll.

Deutliche Worte des Bundespräsidenten

Ein weiteres Signal kommt ausgerechnet aus dem Land, das sich besonders vehement gegen eine Änderung der europäischen Flüchtlingspolitik stemmt: Der deutsche Bundespräsident hat am 30. Juni – am gleichen Tag, an dem die 45 Flüchtlinge erstickten – in einer Rede anlässlich eines „Berliner Symposiums zum Flüchtlingsschutz“ die Verantwortung Europas und auch Deutschlands angemahnt: „Die Bilder der Särge im Hangar des Flughafens von Lampedusa, die Bilder der kletternden Menschen am Stacheldrahtzaun der Exklaven Ceuta oder Melilla – sie passen nicht zu dem Bild, das wir Europäer von uns selber haben“, sagte Gauck. Die wachsende Zahl der Bootsflüchtlinge sei „auch eine Reaktion auf die zunehmende Abschottung der südöstlichen Landgrenzen der Europäischen Union. Mehr und mehr Fluchtwillige versuchen den lebensgefährlichen Weg übers Meer. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten sind vermutlich rund 23.000 Menschen beim Fluchtversuch verdurstet, ertrunken oder gelten als vermisst. Und kaum ein Tag vergeht, ohne dass von neuen Flüchtlingsbooten berichtet wird. Ich kann mich daran nicht gewöhnen. Niemand in Europa sollte sich daran gewöhnen.“

Gauck warnte Deutschland vor Selbstgerechtigkeit: Zwar treffe es zu, dass in absoluten Zahlen in kein Land Europas mehr Asylbewerber als in die Bundesrepublik kämen. Doch gemessen an der Bevölkerungszahl liege Deutschland in Europa längst nicht an der Spitze, sondern auf Platz 9, deutlich hinter Schweden, Österreich, Ungarn und Belgien. Und er erinnerte daran, dass „nur ein kleiner Teil der weltweit mehr als 51 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen Schutz in Europa sucht – und ein noch kleinerer findet ihn tatsächlich… Setzt man die Zahl der Flüchtlinge ins Verhältnis zur Wirtschaftskraft der Länder, so sind nach der aktuellen Statistik des UNHCR die drei größten Aufnahmeländer Pakistan, Äthiopien und Kenia“.
Die Haltung der deutschen Regierung passt nicht zu Gaucks Rede. Dennoch haben seine Worte Gewicht.

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