Sturm auf den Justizpalast

Das, was am 11. März in Mailand geschah, stellt in der Geschichte Italiens eine weitere – negative – Zäsur dar. Über 100 Abgeordnete von Berlusconis PdL marschierten protestierend in den Justizpalast, bis zum Gerichtssaal, in dem gegen ihren Boss wegen Amtsmissbrauchs und Förderung der Prostitution Minderjähriger verhandelt wird. Die Verhandlung musste abgebrochen werden.

PdL-Abgeordnete vor dem Mailänder Gericht

PdL-Abgeordnete vor dem Mailänder Gericht

Ein unabhängiges Gericht wird durch Parlamentarier eingeschüchtert und an der Ausübung seiner Funktion gehindert. Vertreter der Legislative attackieren Vertreter der Judikative. Rechtsstaatliche Verfassungsgrundsätze wie Gewaltenteilung und unabhängige Justiz werden mit Füßen getreten. Spätestens jetzt wird (vielleicht) auch dem Letzten klar, dass in Italien keine Komödie gespielt wird, in der nur Witzfiguren auftreten.

Abschied vom Rechtsstaat

Mit ihrem Sturm auf den Mailänder Justizpalast verabschiedet sich die PdL von der Demokratie und offenbart sich endgültig als antidemokratische, umstürzlerische Kraft. Als Stoßtrupp eines Abenteurers, der seinen letzten verzweifelten Kampf führt, um mit allen Mitteln seine Haut zu retten. Vor Strafverfahren, die er allein den eigenen Verfehlungen verdankt. Ein Mann, der wegen Korruption, Betrug, Steuerhinterziehung, Amtsmissbrauch und Prostitutionsförderung angeklagt ist, will sich entziehen. Und schreit Verfolgung, Komplott, Verschwörung, um stattdessen die Richter auf die Anklagebank zu setzen. Die elenden Figuren, die von ihm abhängig sind, schreien mit. Sie haben längst jeden Versuch aufgegeben, sich von ihm zu lösen und so etwas wie eine „normale“ Partei zu werden.

Der Anlass: B. hatte sich wieder mal für verhandlungsunfähig erklärt, diesmal aus gesundheitlichen Gründen (schwere Bindehautentzündung), und die Mailänder Staatsanwälte hatten es gewagt, dies amtsärztlich überprüfen zu lassen. Eine Schande, eine Unmenschlichkeit! Und dann hat – unerhört! – die Staatsanwaltschaft Neapel auch noch beantragt, gegen B. wegen Bestechung eines ehemaligen (geständigen) Senators sofort ein Verfahren einzuleiten. Alles nur, um B. fertig zu machen, ihn womöglich ins Gefängnis zu stecken! Nun müsse man „zu allen Mitteln greifen“, also marschierten die „Onorevoli“ in den Justizpalast, angeführt vom Ex-Justizminister (!) Alfano.

Napolitanos Zweideutigkeit

Damit nicht genug. Um ihrer Empörung weiteren Nachdruck zu verleihen, beantragte die PdL Audienz beim Staatspräsidenten. Dort erklärte Napolitano zwar sein „Bedauern über die noch nie dagewesenen Vorkommnisse vor dem Mailänder Gericht“, in der präsidentiellen Sprache eine deutliche Rüge. Er hätte es dabei belassen sollen, was er leider nicht tat. Nach dem Gespräch mit der PdL-Delegation bat er auch den Vorstand des Obersten Richterrates (oberstes Kontrollorgan der Richterschaft), dessen Vorsitzender er ist, zum Rapport. Und gab anschließend ein Kommuniqué mit folgendem Tenor heraus: Beide Seiten – Pdl wie Justiz – seien zur Besonnenheit und Zurückhaltung aufgerufen, denn es „drohe die Entwicklung einer gefährlichen Spannungsspirale“. An erster Stelle stehe die Wahrung der Legalität, die auch für gewählte Mandatsträger zu gelten habe (wäre ja noch schöner …), doch er „fordere auch von den Ermittlern und Richtern Verhaltensweisen, die jegliche Überschreitung ihrer Aufgaben ausschließen und die minutiöse Einhaltung der Prinzipien eines ‚gerechten Verfahrens’“ garantieren. Warum betont er diese Selbstverständlichkeit? Hat er Zweifel am korrekten Vorgehen der betroffenen Richter und Staatsanwälte? Und weshalb bitte? Kein Wort dazu. Warum also dieser „Appell“? Es kommt – leider – noch schlimmer. Zum Schluss geht der Präsident auf die angespannte politische Lage und anstehenden „delikaten“ institutionellen Entscheidungen ein (Wahl der Kammerpräsidenten, Bildung einer neuen Regierung, Wahl des neuen Staatspräsidenten). Und setzt hinzu: Solche Entscheidungen würden den Beitrag aller politischen Kräfte erfordern, weshalb „die Sorge der PdL verständlich (sei), dass seinem Leader in dieser komplexen politisch-institutionellen Phase die volle Beteiligung garantiert“ werde.

Wie war das? Die Sorge der PdL verständlich? B. soll die „volle Beteiligung garantiert“ werden? Nein, Herr Präsident! Gegen B. laufen rechtmäßige Strafverfahren, und nur diese können zeigen, ob der Herr hinter Gitter gehört oder nicht. Meint Napolitano etwa, dass die Prozesse ausgesetzt werden sollten, solange B. politisch mitmischen will? Das ist genau das, was B. möchte. Dass aber der Staatspräsident ein solches rechtswidriges Ansinnen „verständlich“ findet, ist unfassbar. Da hilft es wenig, wenn Napolitano dann betont: die „ungeheuerliche Vermutung von ‚Manövern auf dem Justizweg‘ gegen B. ist völlig abwegig“. Da die PdL ihre Gerichtsbelagerung genau mit dieser abwegigen Vermutung begründet, hätte er die Herrschaften in kurzer Audienz 1) heftig rügen und 2) aus seinem Büro heraus komplimentieren müssen. Punto e basta.

Berechtigte Sorge, falsche Reaktion

Zu Recht hat Massimo Giannini in der „Repubblica“ unter der Überschrift „Prämie für die Aufständischen“ die Zweideutigkeit und politische Brisanz der präsidentiellen Äußerungen aufs Korn genommen. Damit habe Napolitano de facto eine „automatische legitime Verhinderung“ für B. anerkannt, einen „Schutzschild“ auf Zeit. Napolitano hat dem in einem harschen Brief an die „Repubblica“ widersprochen, doch der Schaden ist da. Die PdL triumphiert: „Sogar Napolitano ruft die Justiz auf, von B. abzulassen!“. B. spürt Rückenwind und fordert aus dem Krankenhaus, er müsse bei Napolitanos Nachfolgerschaft ein entscheidendes Wort mitreden (auf keinen Fall wieder „ein Linker“).

Der Schaden ist so groß, wie Napolitanos Beweggründe klar sind: Er fürchtet – aus gutem Grund – eine gefährliche Zuspitzung der politischen und institutionellen Krise in einer Phase, in der er als scheidender Präsident kaum noch handlungsfähig ist. Der von der PdL angedrohte Boykott des Parlaments (wenn die Justiz B. weiter „verfolgt“) zeigt das Ausmaß ihrer Unverantwortlichkeit. Napolitano möchte unbedingt die außer Rand und Band geratene Truppe „an Bord halten“, damit sie den Karren nicht völlig gegen die Wand fährt. Die Sorge ist berechtigt, die Reaktion falsch. Sie stärkt die Provokateure, statt sie in die Schranken zu weisen. Denn die Verfassung und die Grundsätze des demokratischen Rechtsstaates dürfen nicht aus politischer Opportunität aufs Spiel gesetzt werden. Niemals. Sonst hat man schon verloren.

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