EU-Asylpakt: eine Bilanz

Wenige Tage nach dem die EU-Innenminister in Luxemburg den sogenannten „Pakt über Immigration und Asyl“ besiegelt und als „historischen Meilenstein“ für eine wirksame Steuerung der Migrationsbewegungen gefeiert hatten, holt schon das Grauen die Wirklichkeit ein.

Erneut Massensterben im Mittelmeer

Wie vor wenigen Monaten vor dem kalabrischen Cutro, so geriet in der vergangenen Woche vor der griechischen Küste ein Fischerboot mit geschätzt 750 Menschen am Bord in Seenot, ohne dass die griechische Küstenwache zu Hilfe kam. Sie begründet das damit, dass die Flüchtlinge die Hilfe verweigert hätten, weil sie unbedingt ihre Fahrt nach Italien fortsetzen wollten. Eine Behauptung, die von Mitarbeitern der NGO Alarm Phone, die viele Anrufe der Schiffbrüchigen erreichten, vehement zurückgewiesen wird. Die Menschen hätten in Panik geschrien und sie verzweifelt um Hilfe angefleht. Alarm Phone habe sofort den Notfall an die Behörden von Italien, Griechenland und Malta weitergeleitet. Vergeblich: Die griechische Küstenwache – die in diesem Fall zuerst zuständig war, da sich das Boot in griechischen Gewässern befand – startete keine Rettungsaktion.

Die furchtbare, noch vorläufige Bilanz des Schiffsunglücks – das wohl bisher schwerste auf der Mittelmeerroute – lautet: 104 Überlebende, 79 Tote, 500-600 Vermisste. Überlebende berichten, dass im Frachtraum viele Frauen und etwa 100 Kinder zusammengepfercht waren. Es besteht keine Hoffnung, dass sie noch lebend gefunden werden können.

Ein schlechter „Kompromiss“

Und wie lautet die Bilanz des von den EU-Innenministern erreichten „historischen Kompromisses“? Wurden tatsächlich – wie von ihnen behauptet – Fortschritte hinsichtlich einer verbindlichen Solidarität aller europäischen Länder bei der Aufnahme von Flüchtlingen erreicht? Samt Asylverfahren, die besser der realen Notlage der Menschen, die Europa zu erreichen suchen, Rechnung tragen? Werden die Anrainerstaaten (Italien, Spanien, Griechenland) stärker entlastet?

Die Antwort lautet leider Nein. Die angeblich „obligatorische“ Umverteilung auf EU-Ebene gibt es nicht: Länder wie Ungarn und Polen (die gegen den Pakt gestimmt haben) dürfen weiterhin an ihrer Weigerung festhalten, keinen einzigen Flüchtling aufzunehmen. Sie werden lediglich ein einmaliges Bußgeld von 20.000 Euro pro abgelehnten Flüchtling zu zahlen haben und sich damit „freikaufen“ können. Ein Fortschritt ist lediglich die Festlegung von Verteilungskriterien, womit das Tauziehen und Aushandeln zwischen den Ländern im Einzelfall vermieden wird.

Der Anspruch, das Aufnahme- und Asylverfahren so zu gestalten, dass dadurch diejenigen zum Zuge kommen, die tatsächlich verfolgt werden oder wegen akuter Notlagen aus ihren Ländern fliehen – Krieg, Dürre, Hungersnot, religiöse oder geschlechtliche Diskriminierung –, wird nicht eingelöst. Im Gegenteil: Für Menschen aus sogenannten „sicheren Herkunftsländern“ und wo bisher die Anerkennungsquote unter 20% lag, gibt es statt regulärer Asylverfahren „obligatorische Schnellverfahren“ direkt an der Grenze, die innerhalb von 12 Tagen abzuschließen sind. Dadurch wird das international anerkannte Recht, den Asylanspruch individuell zu prüfen und dessen rechtsstaatlichen Rahmen zu garantieren, (weitgehend) außer Kraft gesetzt.

Auch die Entlastung der europäischen Küstenländer, die vor allem die italienische Regierung ganz oben auf die Verhandlungsagenda setzte, kommt durch den „Kompromiss“ nicht zustande. Sie werden eher zusätzlich belastet, da sie für die Registrierung und Erstaufnahme zuständig bleiben und außerdem noch die Verantwortung für die Durchführung der Schnellverfahren an der Grenze erhalten, deren Umsetzung kompliziert und ganz sicher nicht konfliktfrei sein wird.

Rückführung in „sichere Transitländer“

Erst recht problematisch sind die neuen Bestimmungen, dass Menschen aus „sicheren Herkunftsländern“, die im Grenzverfahren als nicht anspruchsberechtigt eingestuft werden, künftig auch in ein „sicheres Transitland“ zurückgeschickt werden können, zu dem sie eine „persönliche Verbindung“ haben: wenn sie dort schon gearbeitet haben, Familienangehörige haben oder aus anderen Gründen. Auch hier wird es schwierig sein zu prüfen, ob es eine solche Verbindung gibt und ob sie für eine umgehende Rückführung ausreicht – immer vorausgesetzt, das Transitland ist überhaupt zu ihrer Rücknahme bereit.

Diejenigen, die solche Schnellverfahren durchlaufen, sollen an der Grenze bis zu drei Monaten in geschlossenen Zentren unter haftähnlichen Bedingungen untergebracht werden. Auch Familien mit Kindern: für sie konnte Deutschland keine Ausnahmeregelung durchsetzen. Nur unbegleitete Minderjährige sind ausgenommen.

Besonders gravierend ist, dass es keine gemeinsamen und verbindlichen Kriterien für die Definition eines „sicheren Transitlandes“ gibt. Das entscheidet jedes Land eigenständig. So hat z. B. Italien „entschieden“, Tunesien und Algerien als „sicher“ einzustufen.

Tunesien ist für Italien wichtig, weil von dort die meisten Kleinboote mit Flüchtlingen Richtung Lampedusa starten. Schon seit langem versucht Meloni, die tunesische Regierung mit finanziellen Versprechen zu überzeugen, die Boote an der Abfahrt zu hindern und Flüchtlinge, die es bis Italien geschafft haben, zurückzunehmen. Bis jetzt ohne Erfolg. Nun will Italien Tunesien auch als „sicheres“ Transitland klassifizieren. Was die Frage aufwirft: Ist das Land für Flüchtlinge wirklich sicher?

Der Fall Tunesien

Seit 2019 herrscht in Tunesien Kais Saied als Präsident mit unbegrenzter Macht. Das Land ist keine Demokratie, sondern ein autoritäres Regime, das keine Rechtsstaatlichkeit und keine Achtung vor Menschenrechten kennt. Saied spricht (wie Meloni und Genossen) von einem „großen ethnischen Austausch“ der Bevölkerung durch subsaharischen Migranten, die das Ziel habe, das „arabisch-muslimische Wesen“ Tunesiens zu zerstören. Er schürt rassistischen Hass gegen die subsaharischen Migranten, die er für minderwertig und kriminell hält. Die Folge sind Schikanen und Gewalt durch Polizei und Behörden und pogromartige Angriffe durch Teile der aufgeheizten Bevölkerung.

Die subsaharischen Migranten leben in permanenter Angst und unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die meisten wünschen nichts anderes, als das „sichere“ Tunesien so schnell wie möglich zu verlassen, weshalb sie nach Möglichkeiten suchen, Italien über Lampedusa zu erreichen.

Vielen gelingt das nicht. Die überfüllten Kleinboote, die von der Hafenstadt Sfax starten, sinken häufig, manchmal schon in Küstennähe. Die Kapazitäten der Leichenhalle von Sfax reichen schon lange nicht mehr, um die Toten, die immer wieder dorthin gebracht werden, aufzunehmen. Vor einigen Tagen veröffentlichte die Repubblica schockierende Bilder von Leichen, die achtlos wie Gegenstände aufeinander gestapelt wurden – in dreckigen Räumen, in denen der Gestank des Todes herrscht. Ohne Würde, ohne Respekt vor dem Tod.

Asyl-Pakt“ wird die Leiden vermehren und kaum Ergebnisse bringen

In dieses Land will Meloni Migranten und Flüchtlinge zurückschicken, auch solche, die nicht aus Tunesien stammen. Sie hofiert dafür den tunesischen Diktator und bietet ihm Finanzhilfen an. In Begleitung von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und des niederländischen Regierungschefs Rutte besuchte sie am 11. Juni das Land, um dessen Herrscher für ein entsprechendes „Deal“ zu gewinnen. Gefolgt von der deutschen Innenministerin und ihrem französischen Kollegen ein paar Tage später.

Der umgarnte Saied hat bisher abgewinkt: Er werde die Tore nicht für Flüchtlinge öffnen, die nach Europa wollen, auch nicht gegen Geld. Aber auch wenn er einwilligen sollte, wäre der „Deal“ nicht nur schändlich (so wie jener mit Libyen), sondern auch zum Scheitern verurteilt. Die Erfahrung zeigt, dass schnelle Rückführungen selten gelingen. Auch die Abfahrten von Flüchtlingsbooten Richtung Europa können nicht durch reine Abschottungsmaßnahmen reduziert, geschweige denn gestoppt werden. Die Menschen werden sich trotzdem auf den Weg machen, sie werden weiterhin mit Hilfe ihrer Familien das Schleppergeld für die lebensbedrohliche Fahrten zusammenkratzen, wenn sie keine Alternative sehen.

Steuerung ja: aber wie?

Seinem Anspruch, zu einer besseren Steuerung und gerechteren Verteilung zu kommen, wird der EU-Pakt über Migration und Asyl nicht gerecht. Eine umfassende „Lösung“ der weltweiten Migration hat noch niemand in der Tasche, aber ein paar Schritte in der richtigen Richtung lassen sich doch angeben:

1) Eine wirklich verpflichtende Vereinbarung, ankommende Flüchtlinge auf alle EU-Länder zu verteilen, je nach Größe und Wirtschaftskraft, und eine europäische Rettungsmission, die entsprechend den internationalen Regeln zur Seenotrettung schnell und koordiniert interveniert.

2) Schaffung von humanitären Korridoren, die diesen Namen verdienen, um legale und sichere Wege für Flüchtlinge zu öffnen (die bisherigen „Korridore“, die meist von Hilfsorganisationen eingerichtet wurden, erreichen nur sehr wenige Menschen).

3) Gemeinsame Vereinbarungen mit dem Ziel, in den EU-Ländern Möglichkeiten für Arbeitsmigranten zu schaffen, die auch die Interessen und Bedürfnisse der Aufnahmeländer hinsichtlich Qualifikation und wirtschaftlichem Bedarf berücksichtigen. Hier könnten die Botschaften und Konsulate in den Herkunftsländern eine Steuerungsfunktion übernehmen.

4) Langfristig angelegte und mit den Herkunftsländern abgestimmte Programme, um dort die wirtschaftliche Lage und Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern – bei Beachtung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten.

Ja, eine Steuerung des globalen Phänomens von Migration und Flucht ist dringend notwendig. Doch repressive Abschottung und Missachtung internationalen Rechts sind dafür nicht der richtige Weg.

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