Terrys Weltsicht

Terry bringt es auf den Punkt. Mit bestechender Prägnanz legt die zwanzigjährige Prostituierte Terry De Nicolò in einem Videointerview, das im Internet abrufbar ist, ihre Sicht der Welt dar. Dass sie die Gelegenheit bekam, liegt daran, dass sie – wie viele andere ihrer Kolleginnen – zu ihren Kunden einen besonders Prominenten zählen darf, den sie „den Kaiser“ nennt. Auch sie gehört zu B.s Hofstaat.

Terry kennt die Welt und ist auch gern bereit, ihre Lebensweisheiten weiterzugeben. Über den Pleiteunternehmer Tarantini, der Frauen für Geld, Aufträge und Ämter an B. verkaufte, ihn damit erpresste und zu Protokoll gab „Frauen und Kokain sind günstig fürs Geschäft“, sagt sie: „T. ist ein Unternehmer von großem Erfolg, ein Mythos… Ihm gelang es, die Spitze zu erreichen, das schafft nicht jeder“. Darauf hingewiesen, dass T.s Methoden nicht gerade legal seien, erklärt sie unbeirrt: „Wenn Du ehrlich bist, kannst Du keine großen Geschäfte machen, Du bleibst klein. Wenn Du nach oben willst, musst Du deinen Arsch riskieren, das ist das Marktgesetz. Um nach oben anzukommen, musst Du über Leichen gehen und das ist auch richtig so.Du musst Deine eigene Mutter verkaufen. Das ist so“.

Wer das anders sieht, ist „nur neidisch“. Und wer gar moralische Zweifel hegt, über den kann Terry nur den Kopf schütteln: „Diese Linke geht einem doch auf den Sack mit der moralischen Idee, dass jeder zweitausend Euro verdienen soll und alle gleiche Rechte haben müssen. Nein, nein, nein! Es gilt das Gesetz des Stärkeren, desjenigen, der Löwe ist und nicht Schaf.“ Gleiche Rechte auch für Schafe, das fehlte noch! Vom Umgang mit dem Kaiser hat Fräulein Terry nicht nur materiell profitiert, das merkt man. Übrigens ist Terry mit „der Linken“ auch sonst unzufrieden, denn die machen es in Wahrheit genauso wie die Anderen, nur mit dem Unterschied, dass sie „blöder sind und nicht bezahlen wollen“.

Trotzdem hat auch Terry Werte. „Die Schönheit“, verkündet sie, „ist ein Wert“. Und dann, mit einer etwas überraschenden Wendung: „Den hat nicht jeder, es muss dafür bezahlt werden, wie für die Kunst eines guten Arztes. Wenn Du schön bist und willst Dich verkaufen, musst Du es tun dürfen. Wenn Du hässlich und zum Kotzen bist, musst Du zu Hause bleiben. Das ist so, seitdem es die Welt gibt“.

Die Schönen verkaufen sich, die Hässlichen bleiben zu Hause. Fragt sich zwar, wer da das bessere Los gezogen hat, aber es ist zumindest übersichtlich. Allerdings müssen sich die Schönen darauf verstehen, es richtig zu machen. Auch darüber hat Terry klare Vorstellungen: „Wenn Du zum Kaiser gehst, musst Du ein Smaragdkollier anlegen. Wenn Du mit Frisullo (ein PD-Politiker, mit T. befreundet und in einen Korruptionsfall verwickelt, A. d. R.) gehst, reicht auch ein Kettchen vom chinesischen Händler…Vor dem Kaiser kannst Du nicht mit einem Fetzen von 100 Euro erscheinen, es musst mindestens ein Prada-Kleid sein. Weil er ein Ästhet ist, er schätzt die Schönheit“. Dass der „Ästhet“ sich über die Vorzüge der jeweiligen Schönen etwas krude äußerte, wie die Abhörprotokolle zeigen, stört Terry nicht. Über kaiserliche Ästhetik lässt sich nicht streiten. Vor allem nicht, weil er gut zahlt.

Vielleicht fragt sich mancher Leser, ob Terrys Lebensphilosophie überhaupt berichtenswert ist, zumal sie „nur“ eine Berufsprostituierte ist. Die Journalistin Concita de Gregorio fand, sie sei es, und schrieb darüber einen lesenswerten Artikel in der „Repubblica“. Mit Recht. Denn Terrys Weltsicht ist, wie De Gregorio richtig anmerkt, eine – wenn auch etwas vereinfachte – Quintessenz des Berlusconismo, die nicht wenige Menschen teilen. Junge Mädchen, für die ein kleiner Auftritt in einer miesen Fernsehshow das Synonym für ein erfolgreiches Leben ist, wozu alle Mittel recht sind. Eltern, die ihre Töchter ermuntern und loben, wenn sie es dann „geschafft“ haben. Geschäftsleute, für die Korruption normal ist. Journalisten wie Ferrara, die jeden „Puritaner“ und „Jakobiner“ titulieren, der die öffentliche Moral und das Einhalten von Regeln und Gesetzen fordert.

Dass ein Vater seine junge Tochter zum Bunga-Bunga-Abend mit dem Auto kutschiert; dass eine Tochter ihre Mutter aus B.s Villa mit „Mamma, rate mal, wo ich bin!“ anruft und dafür ein begeistertes „Brava!“ kassiert; dass ein Verlobter stinkesauer seine Freundin als dumme Gans beschimpft, weil nicht sie, sondern andere für die Nacht mit B. ausgewählt wurden: Das finden erstaunlich viele Leute völlig in Ordnung.

Natürlich weiß ich, dass es viele, sehr viele gibt, die anders denken und fühlen. Die ihre Stimme erheben und Zeichen setzen. Für ein anderes Leben, für andere Werte. Dennoch: Auch für Terrys Lebensmodell gibt es eine gesellschaftliche Basis. Mit dem zynischen „So ist es und so ist es auch richtig“, das sie mit einem entwaffnenden Lächeln vorträgt, steht sie nicht allein.

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