Milliardenschwerer Nationaler Recoveryplan droht zu scheitern

Italiens Nationaler Recoveryplan (Piano Nazionale di ripresa e resilienza/PNRR) ist Teil des EU-Programms „Next Generation EU“, das insgesamt 750 Milliarden (für den Gesamtzeitraum 2021 – 2026) umfasst und für den Wiederaufbau in den europäischen Ländern nach der Pandemie aufgelegt wurde. Mit 191,5 Milliarden – davon 70 als nicht rückzahlbarer Zuschuss und 121 als Darlehen – erhält Italien den höchsten Anteil.

Einen solchen Riesenfond richtig zu handhaben und sinnvoll zu nutzen, wäre für jedes Land und für jede Regierung eine enorme Herausforderung. Erst recht in Italien, wo Verwaltungsapparate und politisches Management nicht gerade durch Effizienz glänzen.

In den vergangenen Wochen haben sich die Hinweise auf große Umsetzungsprobleme vermehrt, die die EU-Kommission aufhorchen lassen und die innenpolitische Diskussion über den PNRR aufgeheizt haben. So hatte der zuständige Minister für europäische Angelegenheiten Raffaele Fitto – ein enger Vertrauter Melonis – eingeräumt, die fristgerechte Realisierung vieler Projekte des PNRR sei „illusorisch“. Der Fraktionsvorsitzende der Lega in der Abgeordnetenkammer Molinari ging noch weiter: er schlug sogar vor, auf einen Teil der Gelder, die von der EU-Kommission als Anleihe bereitgestellt werden, zu verzichten: „Was hat denn für einen Sinn, sich gegenüber der EU zu verschulden für Projekte, die sowieso nichts bringen?“, so seine vernichtende Bewertung.

Das Risiko, dass große Teile der PNRR-Vorhaben nicht zustande kommen, ist tatsächlich groß und kann dazu führen, dass die EU-Kommission die Zahlungen aussetzt oder gar einstellt. Die Gründe sind vielfältig: Zu den „alten Krankheiten“ – wie eine schwerfällige, handwerklich überforderte und ausufernde Bürokratie und die immer wieder versuchte Einflussnahme durch die organisierte Kriminalität – kommen die galoppierende Inflation, die neue Finanzkalkulationen erforderlich macht, und Mängel beim Projektmanagement, u. a. in Bezug auf Zeitplanung, Auswahlkriterien und Priorisierung.

Probleme, die sicherlich nicht allein der seit wenigen Monaten amtierenden Meloni-Regierung angelastet werden dürfen. Dennoch ist offensichtlich, dass diese über keine Strategie verfügt, um die notwendigen Korrekturen vorzunehmen. Regierung und Mehrheitsparteien reagieren auf die „PNRR“-Krise vielmehr unkoordiniert und uneinig. Sie tendieren zunehmend dazu, gegenüber den Problemen zu kapitulieren oder fragwürdige „Umwidmungen“ der Ressourcen vorzuschlagen, die mit den Leitlinien des von der EU genehmigten Nationalen Recoveryplans nicht im Einklang stehen.

Regierungsmehrheit über PNRR uneinig

Die Ministerpräsidentin ist „not amused“. Sie widerspricht den „defätistischen Äußerungen“ aus der eigenen Regierungskoalition und versucht die Probleme herunterzuspielen, vor allem, um die EU-Kommission zu besänftigen. Die Option, auf einem Teil der Ressourcen zu verzichten, liege nicht auf dem Tisch, erklärt sie. „Wir arbeiten vielmehr daran, die Probleme zu lösen, und den Plan insofern flexibler umzusetzen, dass Projekte, die bis 2026 nicht zu Ende gebracht werden können, durch andere ersetzt werden“.

Schwammige Aussagen, mit denen sich die Zweifel der EU-Kommission kaum ausräumen lassen. Die Ressourcen seien für bestimmte prioritäre Maßnahmen vorgesehen, zum Beispiel für die Bekämpfung des Klimawandels, mahnte Umweltkommissar Sinkevicius, und könnten nicht einfach für andere Projekte umgewidmet werden (daraufhin Meloni: „Wir bestimmen selbst, was unsere Prioritäten sind“).

Besorgt wegen der Probleme mit dem PNRR und der daraus wachsenden Spannungen mit der EU ist auch Staatspräsident Mattarella, der vor einigen Tagen die Ministerpräsidentin zu einem langen Vier-Augen-Gespräch empfang. Zum Inhalt gab es vom Amt des Staatspräsidenten keine Erklärung, da der Verfassungsrechtler Mattarella immer penibel darauf achtet, nicht den Eindruck einer Einflussnahme auf das Regierungshandeln zu erwecken. In den Tagen davor hatte er allerdings offizielle Anlässe genutzt, um – ohne direkt auf die Regierung Bezug zu nehmen – alle Beteiligte aufzufordern, beim PNRR „Nägel mit Köpfen zu machen“.

Wirtschaftsexperten kritisieren „Geburtsfehler“ des PNRR

Als ob die Pannen und die Kontroverse um das Milliardenprogramm nicht schon genug wären, meldeten sich vor einigen Tagen zwei renommierte Wirtschaftsexperten mit einem Artikel in der „Repubblica“ zu Wort – mit einer überraschenden Aussage. Das bekannte „Duo“ Tito Boeri und Roberto Perotti, deren Fachkompetenz unstrittig ist, gilt eher als linksorientiert und kritisch gegenüber der Rechten. Diesmal aber springen die beiden Experten ausgerechnet der Lega zur Seite: Deren Fraktionsvorsitzender Molinari habe recht, wenn er vorschlägt, zum Teil oder ganz auf die 121 Milliarden zu verzichten, die von der EU als Anleihen zur Verfügung gestellt werden – man frage sich nur, warum er seinerzeit im Parlament dem Plan zugestimmt habe (wobei man sich allerdings genauso fragen kann, warum auch Boeri und Perotti damals keinen Anlass für Kritik an dem Programm sahen, MH).

Die beiden Ökonomen nennen nun folgende „fünf Fehler des PNRR“ – und damit fünf Gründe, um ihn ganz oder in Teilen aufzugeben:

1) Der Geburtsfehler des Nationalen Recoveryplans sei die Absicht gewesen, so viel Geld wiemöglich nach Hause zu bringen, um erst dann über das Problem nachzudenken, wie man es ausgeben könne. Also habe man die öffentlichen Verwaltungen aufgefordert, „in den Schubladen liegende Projekte“ – mehr oder weniger beliebig – zu „reaktivieren“, um die Ressourcen zu nutzen.

2) Man habe zu wenig getan, um die Ausgabeeffizienz zu verbessern. So sei mit dem neuen Ausschreibungskodex das Problem der zu vielen Contracting-Stationen nicht angegangen worden. Viele Kommunen waren daher überfordert, die Ausschreibungen zu verwalten und die Projektumsetzung zu überwachen.

3) Falsche Priorisierung der Vorhaben. Man habe es vorgezogen, der „dominanten Ideologie“ von Brüssel zu folgen, statt die realen Bedürfnisse des Landes in den Vordergrund zu stellen. So wäre es beispielsweise besser gewesen, statt 40 Milliarden für die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung aufzuwenden, diese Mittel für die Verbesserung der Lebensqualität in den Vorstädten zu nutzen.

4) Die Eile. Die Stadien von Florenz und Venedig seien ein Beispiel dafür, „welche Desaster aus der Kombination von Geldströmen und Ausgabedruck entstehen. Viel sinnvoller und bedarfsgerecht wäre ein breites Programm gut geführter und gepflegter Mikrosportanlagen gewesen“.

5) Die fehlende Transparenz. Bei so großen Geldsummen sei eine Kontrolle des Regierungshandelns beinahe unmöglich, das könne nicht einmal der Rechnungshof schaffen. Zwar habe man bisher „formal“ alle Zwischenziele erreicht, über die nach jedem Semester der EU-Kommission zu berichten ist, aber eine solche Formalität sage kaum etwas über den effektiven Stand der Umsetzung und die Ausgabeeffizienz aus.

Das Fazit von Boeri und Perotti

Es stimme nicht, dass Italien bei einem Verzicht auf Geldanleihen einen schlechten Eindruck („pessima figura“) machen würde. „Die Anerkennung der Realität gehört zu den Kennzeichen wahrer Staatsmänner. Kein Land, nicht einmal das am besten verwaltete, könnte eine solche Geldflut in so kurzer Zeit sinnvoll und effizient bewältigen. Es macht keinen Sinn, Geld zu leihen und für Projekte auszugeben, die für die Gesellschaft von geringem Wert sind. Das (der Verzicht, MH) wäre eher eine Demonstration von Intelligenz, nicht von Versagen oder mangelnder Planungsfähigkeit“.

Die beiden Experten glauben auch nicht, dass die EU auf einen solchen Verzicht negativ reagieren würde, wenn es dafür triftige Gründe gibt. Schlecht sei vielmehr die Idee von Europaminister Fitto, Projekte aus dem PNRR in andere staatliche Mittel oder in die klassischen europäischen Programme zu verschieben, um Zeit zu gewinnen, denn „das würde bedeuten, eine europäische Schuldaufnahme zu fast null Zinsen durch eine italienische Schuld zu viel höheren Zinsen zu ersetzen».

Eine fundierte Bewertung dieser Analyse würde sicherlich detaillierte Kenntnisse über die Kriterien und den Umsetzungsstand des PNRR erfordern, über die Nicht-Fachleute (wie ich) nicht verfügen. Klar scheint mir aber zu sein, dass eine Abkehr Italiens – der größte Profiteur des Programms – mitten in der Realisierungsphase doch sehr problematisch wäre. Dass die EU in einem solchen Schritt einen „Intelligenznachweis“ sieht – wie Boeri und Perotti vermuten –, halte ich für unwahrscheinlich. Eher wird sie darin den zigsten Beleg für Italiens Unzuverlässigkeit sehen.

Weitere Konfliktfelder zwischen EU und italienischer Regierung

Das vermutet wohl auch die Regierungschefin, die bei einem „Ausstieg“ aus dem Programm einen Glaubwürdigkeitsverlust Italiens und seiner Position in Europa befürchtet. Sie hat also die Parole ausgegeben: Am PNRR festhalten, aber gegenüber der EU „maximale Flexibilität bei der Umsetzung“ einfordern. Was das auch immer heißen mag.

Das Verhältnis zwischen Italien und der EU ist ohnehin zunehmend angespannt, nicht allein wegen des holprigen Verlaufs des Recoveryplan, sondern auch wegen Differenzen auf anderen Feldern. So zum Beispiel beim Thema Bürgerrechte, wo die rechtsextreme Regierung Melonis, die mit Orban an einem Strang zieht, auf der europäischen Ebene weitgehend isoliert ist. Das Europäische Parlament hat neulich mit breiter Mehrheit die Anweisung der italienischen Regierung an die Gemeinde Mailand verurteilt, Kinder von gleichgeschlechtlichen Eltern nicht mehr zu registrieren, da sie homosexuelle Paare und deren Kinder diskriminiere. Auch Teile der konservativen Europäischen Volkspartei/EVP (die Abgeordneten aus Nordeuropa und Portugal) stimmten dafür, die deutsche EVP-Gruppe gab ihren Abgeordneten Wahlfreiheit – der Rest (u. a. Forza Italia) war dagegen.

Strittige Fragen zwischen EU und italienischer Regierung sind auch die Migrationspolitik, die Haltung zum Europäischen Stabilitätspakt, den Italien noch nicht ratifiziert hat, und die Regeln über die Konkurrenz (u. a. die sogenannte „Bolkenstein-Richtlinie“ über die Vergabe von Strandkonzessionen, welche die Rechte – rechtswidrig – hartnäckig blockiert, um die eigene Wählerklientel nicht zu verärgern).

Angesichts dieser Lage kann sich die Meloni-Regierung ein Scheitern des Milliardenprogramms PNRR in der Tat nicht leisten. Sie scheint aber auch nicht die Kraft zu haben, es abzuwenden. Weder auf der politischen noch auf der handwerklichen Ebene.

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