Italien der zwei Geschwindigkeiten?

Ministerpräsidentin Meloni befindet sich in einem Dilemma. Sie und ihre Partei „Fratelli d’ Italia“ stehen für einen souveränistischen Kurs, der die Rolle und Stellung der (italienischen) „Nation“ innen- wie auch außenpolitisch überhöht. Wenn sie von Italien spricht, sagt Meloni immer „la Nazione“ und nicht, wie die meisten Regierungschefs vor ihr, „il Paese“ (das Land). Die bewusste Wortwahl soll die identitäre und nationalistische Politik nicht nur von ihr und ihrer Partei, sondern auch der von ihr angeführten Regierung unterstreichen und Italien als ein „geschlossenes Ganzes“ präsentieren.

Lega feiert regionale Autonomie als eigenen Erfolg

Die vom Koalitionspartner Lega gewollte Staatsreform, die eine deutliche Stärkung regionaler Kompetenzen vorsieht und von der in erster Linie die nördlichen Regionen profitieren, („autonomia differenziata“), folgt indes einer anderen Agenda. Dennoch verabschiedete das Kabinett vor zehn Tagen einstimmig den entsprechenden Gesetzesentwurf des Ministers für regionale Angelegenheiten und Autonomie, Roberto Calderoli (Lega).

Für die Lega ist die Autonomie-Reform ein schon seit Langem verfolgtes Ziel. Bei den Verhandlungen zur Bildung der neuen Regierung machte sie deren Realisierung zur Voraussetzung für ihre Mitwirkung. Sie hofft damit, in ihren angestammten Einflussgebieten im Norden ihr Profil wieder aufpolieren und die starken Zustimmungsverluste bremsen zu können, die Melonis Partei zugute kamen.

Die Ministerpräsidentin ist für den Erhalt ihrer Regierungsmehrheit auf die Koalitionspartner Lega und Forza Italia angewiesen, ihr grünes Licht für die Stärkung der regionalen Autonomie war für sie daher alternativlos. Angewiesen ist sie allerdings auch auf Konsens im Süden der „Nation“: Dort, wo sie über ein breites Becken an Wählerstimmen verfügt, regt sich heftiger Widerstand gegen die Reform. Das Land würde dadurch gespalten, bereits vorhandene Ungleichheiten würden verstärkt und der Weg zu einem „Italien der zwei Geschwindigkeiten“ frei gemacht, warnen unisono die Gouverneure der südlichen Regionen.

Melonis Intervention zur „Entschärfung“ des Gesetzesentwurfs

Meloni hat versucht, aus diesem Dilemma herauszukommen, indem sie den ursprünglichen Entwurf an einigen Stellen etwas entschärfte. Immer wieder betont sie, die nationale Einheit sei nicht in Gefahr, im Gegenteil: „Die Regierung leitet einen Prozess ein, um die jetzt bestehenden territorialen Disparitäten zu überwinden und allen Bürgern gleiche Rechte und Leistungen zu garantieren“, Bürger und Regionen „erster und zweiter Klasse“ werde es nicht geben, so ihr Kommentar nach der Kabinettsentscheidung.

Plakat gegen die Autonomie-Reform

Als Garantie dafür nennt sie die Festlegung von Mindeststandards für die Dienstleistungen in den verschiedenen Bereichen („livelli essenziali di prestazione/LEP“). Sie sind bereits in Art. 117 der Verfassung vorgesehen, nach dem der Staat solche „Grundniveaus“ definieren soll, um gleiche Bürgerrechte und Sozialleistungen im ganzen Land zu garantieren.

Das Problem ist dabei, dass – Verfassung hin oder her – solche „LEPs“ mit Ausnahme des Gesundheitswesens nie festgelegt wurden. Melonis Ankündigung, dass sich das jetzt ändern wird, bleibt zunächst nur eine Absichtserklärung. Zumal zwischen der Definition von Mindeststandards und deren Realisierung in der Praxis ein weites Feld liegt – und die dafür notwendigen Ressourcen bisher nirgendwo ausgewiesen sind. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Regierungschefin Versprechen unter Berufung auf die knappen Ressourcen nicht einhält.

Eckpunkte der Reform

Bereits jetzt verfügen die Regionen Friaul, Sardinien, Sizilien, Trentino-Südtirol und Aostatal über Sonderstatute mit erweiterten Autonomierechten, die schon in der Zeit 1946 – 1963 durch verfassungsändernde Gesetze eingeführt wurden. Laut Art. 116 der Verfassung können auch weitere Regionen eine Erweiterung ihrer Kompetenzen beantragen, ausgenommen in den Bereichen, die qua Verfassung exklusiv der Zentralregierung obliegen (u. a. Außenpolitik, internationale Beziehungen, Umweltschutz). Für eine Reihe anderer Bereiche – Bildung, Gesundheitswesen, Energie, Verkehr, Fiskus – können die Regionen zwar eigene Kompetenzrechte erhalten, diese dürfen aber nicht deren „Grundprinzipien“ berühren, welche der zentralstaatlichen Gesetzgebung vorbehalten bleiben (Art. 117).

Der vom Kabinett beschlossene Gesetzesentwurf soll den Rahmen bieten, in dem sich die konkreten Vereinbarungen bewegen dürfen, die zwischen dem Zentralstaat und den Regionen geschlossen werden, die Autonomierechte beantragen. Die Regionen Venetien, Lombardei und Emilia Romagna haben bereits solche Anträge eingereicht.

Mit dem Transfer von Kompetenzen vom Zentralstaat an die Regionen geht die Zuweisung von Ressourcen einher, damit die Regionen die ihnen übertragenen Aufgaben erfüllen können. Die Region Venetien beantragt konkret, 90% der Steuereinnahmen von Bürgern und Unternehmen, die dort ansässig sind, übertragen zu bekommen, das heißt ca. 41 Milliarden jährlich; für die Lombardei wären es ca. 100 Milliarden und für die Emilia Romagna 43 Milliarden. Zusammengerechnet würden damit von den 750 Milliarden des gesamten Steuereinkommens 190 drei Regionen zugewiesen bekommen, die schon jetzt zu den wohlhabendsten gehören. Besonders stark ist die Kluft zu den Regionen im Süden, wo geringe Wirtschaftskraft, hohe Arbeitslosigkeit, prekäre (oder illegale) Beschäftigung und Abwanderung in den Norden zu schlechteren Lebensbedingungen und größerer Armut führen.

Die politische und verfassungsrechtliche Kontroverse

Es wundert also nicht, dass die politische und auch verfassungsrechtliche Debatte sich insbesondere auf die Frage der Ressourcen und ihrer regionalen Verteilung konzentriert. Die Einführung eines solchen Autonomiemodells würde die Kluft zwischen Nord- und Mittelitalien und dem Süden noch tiefer werden lassen, mahnen die Kritiker, was wiederum dem Geist der Verfassung widerspreche, die in ihren unveränderbaren „Grundprinzipien“ festschreibt, dass 1. für alle Bürgerinnen und Bürger auf dem nationalem Territorium gleiche Rechte gelten und der Staat verpflichtet ist, Hindernisse sozialer oder wirtschaftlicher Natur zu beseitigen, die der Realisierung dieses Grundsatzes entgegenstehen (Art. 3), und dass 2. die italienische Republik – bei gleichzeitiger Förderung von Dezentralisierung und Autonomie auf lokaler Ebene – „einig und unteilbar“ ist (Art. 5).

Auf Druck der südlichen Regionen und der Oppositionsparteien, aber auch der Unternehmen und Gewerkschaften wurde in den Entwurf die Einführung eines Ausgleichsfonds („fondo di perequazione“) – ähnlich dem deutschen Mechanismus des Länderfinanzausgleichs – aufgenommen, mit der Begründung, dass beim Start der Reform alle Regionen gleiche Ausgangsbedingungen haben müssten.

Fachexperten unterstreichen, dass ein solcher Ausgleichsfonds für die Reform eine unerlässliche Voraussetzung sei und daher noch vor dem Inkrafttreten eingerichtet werden müsse. Die Sozialexpertin Linda Laura Sabbadini dazu in der „Repubblica“: „Keine Region darf zurückbleiben, wenn die differenzierte Autonomie eingeführt wird. Das bedeutet: Noch vorher müssen sowohl der Finanzausgleich als auch die Mindeststandards bei den Leistungen beschlossen werden – und zwar durch das Parlament und nicht, wie im Entwurf vorgesehen, durch ein Gesetzesdekret der Regierung“.

Wahlkampfgeschenk für die Lega

Neben grundsätzlicher Kritik nimmt die Opposition auch Anstoß daran, dass der Kabinettsbeschluss über die von der Lega gewollte Reform zeitnah zu den anstehenden Regionalwahlen im Latium und in der Lombardei gefasst wurde, die am 12./13. Februar stattfinden. Besonders in der Lombardei erhofft sich nämlich Salvinis Lega, die in den Umfragen schwächelt, mit dem Autonomiethema zu punkten.

Sowohl die PD als auch die 5-Sterne-Bewegung haben starke Opposition im Parlament angekündigt. In der PD hält inzwischen auch der Präsident der Emilia-Romagna, Bonaccini, der bei den anstehenden Vorwahlen für das Amt des Generalsekretärs Favorit ist, den Regierungsentwurf in dieser Form für „inakzeptabel“. Seine Konkurrentin Elly Schlein moniert, der Entwurf sei im Vorfeld überhaupt nicht mit der Konferenz der Regionen diskutiert worden („Eine Ohrfeige Melonis für den Süden“). Der Vorsitzende der 5SB, Giuseppe Conte, der im Süden sein größtes Wählerpotential hat, nimmt ebenfalls Meloni ins Visier: „Die Patriotin Meloni bezahlt die Zeche an Salvini, um ihn in der Koalition zu halten und verkauft die Einheit Italiens für ein paar Lega-Wählerstimmen mehr in der Lombardei“.

Auch die Front der Autonomie-Gegner im Süden formiert sich: neben den zu Mittelinks zählenden Gouverneuren wächst – parteiübergreifend – auch der Protest der Bürgermeister. In gemeinsamen Erklärungen und einem Brief an Staatspräsident Mattarella forderten Hunderte von ihnen, angehört zu werden, um „den Beginn einer Zersetzung der Einheit Italiens“ aufzuhalten. Einige Gouverneure aus dem Süden, die wie Roberto Occhiuto (Kalabrien, Forza Italia) und Marco Marsilio (Abruzzen, Fratelli d’ Italia) zu den Regierungsparteien gehören, bekennen sich zwar aus Parteidisziplin zur Reform, betonen aber gleichzeitig, dass sie „gerecht“ und mit einem finanziell adäquaten Ausgleichsfond ausgestattet sein müsse.

Das neue Autonomiegesetz hat noch einen langen parlamentarischer Weg vor sich. Da er vor allem den parteipolitischen Profilierungsinteresse der Lega dient, wird dieser Weg nicht nur von Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition, sondern auch innerhalb der Regierung selbst begleitet sein. Und als Antwort auf den „Punktsieg“ der Lega könnte die Ministerpräsidentin versucht sein, ihre „Lieblingsreform“ zu forcieren, die in die entgegengesetzte Richtung geht: die Einführung eines Präsidialsystems, welches das jetzt vorhandene Gleichgewicht der rechtsstaatlichen Organe zugunsten einer Stärkung des Zentralmacht verändert.

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